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Nie jestem botem

Aktion „Buch des Monats“: Ana Marwan „Der Kreis des Weberknechts“
In diesem Jahr publizieren wir alle zwei Monate Auszüge aus der österreichischen Gegenwartsliteratur, ausgewählt und übersetzt von Małgorzata Gralińska.
Redaktion: Monika Gromala
Zusammenarbeit: Universitätsbibliothek in Warschau und Österreich-Bibliotheken in Polen

Werbeaktion im Rahmen der Initiative der Sektion für Internationale Kulturangelegenheiten des Bundesministeriums für europäische und internationale Angelegenheiten in Zusammenarbeit mit der Österreichischen Gesellschaft für Literatur – „Internationale Literaturdialoge”, https://www.literaturdialoge.at




Ana Marwan
„Der Kreis des Weberknechts“

Ana Marwan wurde 1980 in Murska Sobota/Slowenien geboren und wuchs in Ljubljana auf. Sie studierte dort Vergleichende Literaturwissenschaft, in Wien folgte ein Studium der Romanistik. Heute lebt sie als freie Autorin in Wien und schreibt Prosa und Lyrik in deutscher und slowenischer Sprache. Aktuell ist sie Herausgeberin der österreichischen Literaturzeitschrift „Literatur & Kritik“. 2022 wurde sie mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet.

Inhalt
Karl Lipitsch mag keine Menschen. Er wohnt alleine, da er eine tiefe Abneigung gegen die Gesellschaft hegt und Gespräche meiden möchte. Häufig sitzt er lesend im Garten oder schreibt an seiner umfassenden philosophischen Abhandlung. Doch die Überzeugung, fortan als Einsiedler in Einsamkeit zu leben und damit glücklich zu sein, gerät schnell ins Wanken. Durch einen Zufall – sofern es denn tatsächlich einer war – macht er nähere Bekanntschaft mit seiner Nachbarin Mathilde. Beide umkreisen den anderen, jeder in der Überzeugung, der Überlegene zu sein. Und so beobachten wir Lipitsch bei seinen Bemühungen, ihr nicht ins fein gesponnene Netz zu gehen. Doch je mehr Lipitsch zappelt, desto kräftiger verfängt er sich in Mathildes Fäden…


Leseprobe

Guten Tag“, rief die Nachbarin breit lächelnd beim Eingangstor.

Diesmal trug sie ein enges Kleid mit Blumen und ein Tablett mit zwei Tassen und einem Kuchen. Die Tassen waren ihrem vorsichtigen Schritt nach voll. Sie bewegte sich unerträglich langsam, wie eine Artistin am Seil, und er wusste genau, wohin das führte.

Er war aufgeregt, ein wenig wegen des Kleides, aber hauptsächlich wegen des Tabletts und der vollen Tassen, die es unmöglich machten, sich auf seine Arbeit auszureden und sie höflich auf dem Seil zurückzuschicken, man musste zuerst aufessen und austrinken, damit sie normal schnell weggehen konnte, damit alles normal war und blieb. Er kam ihr entgegen, bedankte sich und half ihr, obwohl er leider viel zu tun hatte, aber das war sehr aufmerksam! Es wäre nicht nötig gewesen.

Ach, das ist gar nichts!“

Gar nichts?! Aufgebracht war er. Er war bereit, die Unannehmlichkeiten des Aufeinandertreffens mit Menschen, die man keineswegs komplett vermeiden konnte, still auszuhalten, aber sie willkommen zu heißen, ihr ihre Last abzunehmen, sie vorsichtig zu tragen, sich zu entschuldigen, dass doch etwas überging, sich kurz zu genieren, wie tollpatschig man war und sich nochmals herzlich zu bedanken – das war eine reine Provokation. Der Faden der Höflichkeit …

Ich backe sehr gerne. Es entspannt mich. Kochen, hingegen, stresst mich ungemein.

Ich kenne aber viele Leute, die Kochen entspannend finden! Finden Sie es entspannend?“

Ich habe leider keine Zeit zu kochen … Ich versuche ununterbrochen zu arbeiten …“

Er zeigte auf die beschriebenen Blätter Papier am Tisch.

Ich wollte Sie natürlich nicht unterbrechen …“

Lipitsch rechnete nicht damit, verstanden zu werden, und schämte sich seiner Plumpheit, aber nur kurz, denn sie fuhr wie ein Panzer fort:

Woran arbeiten Sie eigentlich?“

Es handelt sich um eine … wissenschaftliche Abhandlung.“

O! Worüber?“

Ich versuche einige Erkenntnisse über die menschliche Seele zu schildern.“

Auf dem Gebiet der Psychologie?“

Auch. Es geht darüber hinaus … Es ist … interdisziplinär“.

Und welche Erkenntnisse haben Sie gewonnen, wenn ich fragen darf?“

Sie kommt sich ganz charmant vor; dieses Lächeln, diese Augenbrauen, lauter Bögen und Kurven … Aufdringliche Frau.

Mit Unbehagen musste Lipitsch an diesem Punkt auch feststellen, dass er keine Antwort auf ihre Frage parat hatte. Nachdem er mit der Menschheit Schluss gemacht hatte, rechnete er nicht mehr damit, neue Antworten liefern zu müssen. Auf diesen neuen Gegenstand war keiner von den alten vorgefertigten Sätzen anwendbar, und neue kann man nicht einfach so liefern, ohne sie vorher getestet zu haben, bei den neuen weiß man es nie, sie können womöglich ausarten, wenn sie freigelassen werden, und wenn man sie dann zurücknehmen will, geht das gar nicht, wir wissen alle wie unmöglich das sein kann, der Mund ist oft eine Wurmdose.

Das Einzige, worauf Lipitsch sich stützen konnte, waren gewisse alte und bereits getestete Regeln. Er wusste zum Beispiel, dass, sobald man den zuvorkommenden Schritt Richtung Klarheit macht, man sich dem gnadenlosen Urteil des anderen aussetzt, der sich plötzlich, ermutigt durch die Verständlichkeit der Sache, ihr auch gleich schon überlegen fühlt und durchaus dazu berufen, ein vielsagendes ‚Ach so…‘ beizusteuern, ein ‚Ach so …‘, das die übermittelten Erkenntnisse äußerlich noch höflich bezweifelt, innerlich aber gleich schon verworfen hat.

Ich bin ein großer Gegner von Zusammenfassungen. Wenn ich zum Beispiel Leonardo wäre und an Mona Lisa arbeiten würde, könnte ich Ihnen das Bild zwar in 30 Sekunden skizzieren, Sie wären aber, nehme ich an, nicht im Geringsten beeindruckt.“

Das war ungeschickt. Das klang so, als ob er sie gerne beeindrucken würde … Das wollte er keinesfalls. Nicht nur, weil er jetzt ein Menschenhasser war, nein, diese Frau hätte sogar in seinen früheren Zeiten bei ihm keinerlei Interesse wecken können. Sie war eindeutig zu schön. Damit würde er es natürlich vor ihr niemals begründen, denn sie wusste bestimmt über ihre Schönheit schon Bescheid, und er war nicht bereit, ein Kompliment zu geben, ohne sich dabei großzügig fühlen zu können und das größtmögliche Maß an Zufriedenheit mit sich selbst als Gegenleistung einzufordern. Das reine Geben hatte er längst aufgegeben.

Die Erkenntnis, dass in ihrem Inneren alle Frauen gleich sind, zählte er zur Fähigkeit der Abstrahierung, die seiner Meinung nach eher in der männlichen Domäne lag, während Frauen (im Allgemeinen, natürlich) dazu tendierten, sich von kleinen Unterschieden verleiten und verwirren zu lassen, sich darin gar zu verlieren. Jede Frau, mit der er bis jetzt zusammen gewesen war, wählte er also ausschließlich anhand ihres Aussehens aus, und zwar so, dass sie ihn nicht oberflächlich aussehen ließ. Aber, obwohl ihm viel daran lag, den Anschein zu erwecken, dass an seiner Verblendung ausschließlich die inneren Eigenschaften der besagten Frau schuld waren, ging es dabei nicht um eine bewusste Vorgehensweise eines kalten Verstandes; er fand tatsächlich einen eitlen Genuss darin, versteckte Schönheit zu entdecken und Ungewöhnliches zu preisen.

Die Verliebtheit, die manchmal nach der Auswahl aufgetreten war, deutete er mit der endlosen Kraft seiner Phantasie. Anders gesagt: Einem geschickten Maler gleich machte er aus einer leeren Leinwand, die eine Frau in ihrem Inneren war, ein würdiges Bild, das er in seinen Tagträumen bis ins kleinste Detail perfektionierte, bis es an das äußere Erscheinungsbild sowie an sein Herz gewachsen war. Er stellte eine Pawlow'sche Verbindung zwischen dem Gesicht der Frau und seinen Träumereien her, sodass er bei ihrem Anblick sofort zu sabbern begann. Davon war er fast überzeugt.

Ich würde zum Beispiel wissen, dass es sich um ein Porträt einer Frau handelt, und meine Neugier wäre geweckt“, erwiderte die Nachbarin.

Um Gottes Willen, sie glaubt es ist etwas Gutes, ihre Neugier zu wecken!

Lipitsch hatte ehrlicherweise nicht oft die Gelegenheit gehabt, sich in verschiedenen Weisen üben zu dürfen, auf die man eine Frau auf Distanz hält … Die ganz spontane Abscheulichkeit schien ihm in diesem Moment der richtige Weg zu sein.

Ich wage zu bezweifeln, dass ich im Stande bin, mit meiner Abhandlung Ihr Interesse zu wecken. Das Portrait der Frau, das ich zeichne, trägt kein mysteriöses Lächeln. Sie ist nackt wie die Wahrheit selbst. Meine einzige Liebe gilt nämlich der Wahrheit (in all ihrer Scheußlichkeit), die ich, modestia aparte, von der Arithmetik und Physik bis zu ihrem Ursprung in der menschlichen Seele verfolgt habe.“

Er sagte in der Tat ‚modestia aparte!‘ Das war erfrischend. Vom Drang, gefallen zu müssen, so vollkommen befreit zu werden, bereitete ihm einen neuen Genuss.

Wahrheit! Das ist ein großes Wort!“

So ist es.“

Sie trank langsam einen Schluck und sagte nach einer Weile:

Ich glaube, die Wahrheit ist uns nicht zugänglich, ich glaube, diese Erkenntnis ist die

einzige Wahrheit, die uns zugänglich ist.“

Euch ist sie unzugänglich?“

Er lächelte innerlich. Er war noch nicht so weit, darauf verzichten zu können, seine neu entdeckte Freiheit auszukosten. Dabei hatte er theoretisch einen größeren Respekt zum freigelassenen Vogel, der auf dem Baum sitzen bleibt, auf dem sein Käfig aufgehängt worden war, als zu dem, der eifrig flatternd ins Unbekannte fliegt. „Die Hoffnung, dass das Unbekannte besser ist, zeugt von Unwissen“, hatte er schon einmal in sein Notizbuch geschrieben. Die Tautologie war ihm gar nicht aufgefallen. Oder wollte er in der Tat sagen: „Obwohl man das Unbekannte nicht kennt, soll man a priori wissen, dass es nicht besser ist?“ Welchem Denkfehler auch immer er unterlegen war, er war überzeugt, dass die Grenzen der Freiheit selbsterwählt aufs Engste angelegt werden sollen, und die Tatsache, dass ihm die Inkonsistenzen zwischen seinen theoretischen Überzeugungen und seinem Handeln nicht bewusst waren, war zwar ärgerlich, lag aber mit Sicherheit nicht an mangelnder Beschäftigung mit sich selbst, also musste man sie einfach so hinnehmen.

Uns Menschen“, erwiderte die Nachbarin unbeeindruckt. „Den Menschen im Allgemeinen.“

Dass er mit dem Menschen im Allgemeinen wieder in den gleichen Topf geworfen wurde, das kratzte schon an seinem Stolz!

Ich werde versuchen, mich verständlich auszudrücken“, sagte er und setzte ein Lächeln auf, das keine verbitterte, sondern eine gelassene Überlegenheit des Trägers mitzuteilen hatte.

Was ist bloß los mit diesem Mann? Ist er geisteskrank? Nein, Geisteskranke tragen zu große Anzüge, oder aber ihnen ist die Hose zu kurz. Für Geisteskranke gibt es nichts nach Maß … Dem da steht sein Anzug wie angegossen. Es tragen nicht viele Männer auch in ihrer Freizeit einen Anzug, das ist jammerschade, eigentlich. Ach, wo sind bloß die Zeiten, wo gesellschaftliche Zwänge auch für das Modische sorgten! Und obwohl Mathilde sich oft über die Bereitwilligkeit von Frauen ärgerte, über alles Unpassende hinwegzusehen, solange der Anzug passte, tat sie genau das Gleiche.

Dann hoffe ich, es lesen zu können, wenn Sie damit fertig sind. Ich werde Sie nicht weiter stören.“

Sie stand ruhig auf und nahm sich Zeit, alles wieder auf das Tablett zu stellen. Sie ließ still das schlechte Gewissen einziehen, damit es auch wirkte. Er half, natürlich half er. Und der Kuchen war köstlich, danke vielmals. Aber obwohl es an dieser Stelle mehr als angebracht gewesen wäre, ihr zu sagen, sie störte nicht, sie sollte ihm seine Dämlichkeit verzeihen, möchte sie nicht noch kurz bleiben? wusste er, er musste sich diesbezüglich zügeln, stark musste er bleiben, seine ganze Zukunft hing davon ab.

Den Kuchen lasse ich Ihnen da. Auf Wiedersehen!“

Sie wählte den besten Zeitpunkt aus, um zu gehen. Sie hatte die Oberhand. Sie war nett und großzügig, er war eigenartig und höhnisch. Sie gab den Kuchen, er nahm den Kuchen.

Aber, seien wir uns ehrlich: Sie gab den Kuchen, um den Teller zurückzufordern! Sie

wird durchaus weiter stören!

Lipitsch schätzte das Interesse seiner Nachbarin an ihm als unerschütterlich ein, (diese Gewissheit lässt sich nur mit seinem mangelnden Interesse an ihr erklären) und nicht einmal die Freizügigkeit, mit der sie es äußerte, die jeglichen Schleiers der Rück- und Vorsicht einer wahrlich Interessierten entbehrte, ließ ihn daran zweifeln. Trotz seiner Eitelkeit, die mehrere schmeichelhaftere Gründe dafür finden könnte, schrieb er ihre Annäherungsversuche ganz bescheiden alleine der Tatsache zu, dass er nichts von ihr wollte, außer dass sie ihn in Ruhe ließ. Und es lag seiner Meinung nach in der Natur der Frau, sich all seinen Wünschen zu widersetzen.

Ana Marwan 
Der Kreis des Weberknechts © Otto Müller Verlag, Salzburg 2019


Rezensionen
Aus sämtlichen ausgelegten Fäden zwischen Mann und Frau, Rede und Gegenrede wird ein dichtes Erzählnetz gewoben, das auch die Lesenden einfängt. Marwans Sprache ist auf Pointe und Witz angelegt, ihren Helden lässt sie genüsslich scheitern. Mann weiß einfach nicht, was Frau will, und anscheinend auch nicht, was er selbst will.“ Senta Wagner, BUCHKULTUR

Marwans Schilderung, wie sich der grantige Mansplainer von seiner vifen Nachbarin Mathilde umgarnen lässt, entfaltet fein gesponnenen Witz. Ihr Debüt ist bestens gelungen.“ Dominika Meindl, FALTER





01.04 - 30.04.2024 ON-LINE