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Nie jestem botem

Aktion „Buch des Monats“
In diesem Jahr werden wir jeden Monat Auszüge aus der österreichischen Gegenwartsliteratur, ausgewählt und übersetzt von Małgorzata Gralińska, publizieren. Redaktion: Monika Gromala
Zusammenarbeit: Universitätsbibliothek in Warschau und Österreich-Bibliotheken in Polen

Werbeaktion im Rahmen der Initiative der Sektion für Internationale Kulturangelegenheiten des Bundesministeriums für europäische und internationale Angelegenheiten in Zusammenarbeit mit der Österreichischen Gesellschaft für Literatur – „Jahr der österreichischen Literatur / Internationale Literaturdialoge”, https://www.literaturdialoge.at



 

MARIE GAMILLSCHEG 
Alles was glänzt (Luchterhand Literaturverlag, München 2018)

Lebenslauf 
MARIE GAMILLSCHEG. 1992 in Graz geboren. Studium der Transkulturellen Kommunikation (Französisch, Russisch) in Graz, danach Master in Osteuropastudien an der FU Berlin. Lebt und arbeitet in Berlin als freie Journalistin und Autorin. Veröffentlichungen in zahlreichen Anthologien und Zeitschriften. Für ihren zweiten Roman Aufruhr der Meerestiere wurde sie 2022 für den Deutschen Buchpreis nominiert.

Preise und Auszeichnungen (Auswahl)
2023 Nominierung für den Clemens-Brentano-Preis mit Aufruhr der Meerestiere
2022 Longlist zum Deutschen Buchpreis mit Aufruhr der Meerestiere
2019 Shortlist für den Rauriser Literaturpreis
2018 Debütpreis des Österreichischen Buchpreises für Alles was glänzt
2018 Nominierung für den Aspekte-Literaturpreis für Alles was glänzt

Veröffentlichungen (Auswahl)
Aufruhr der Meerestiere, (Roman), Luchterhand, München, 2022
Alles was glänzt, (Roman), Luchterhand, München, 2018
Wenn sie kommen, (Erzählung), E-Book bei Matthes & Seitz, Berlin, 2016

Inhalt
Marie Gamillscheg erzählt in ihrem Debütroman die Geschichte eines sterbenden Ortes und einiger seiner Bewohner. Einst lebendiges Bergbaugebiet mit Tourismuswirtschaft, ändert sich alles mit dem Artikel eines Journalisten, der den ausgebeuteten Erzberg, an dessem Fuße die Ortschaft liegt, zur Zeitbombe erklärt und voraussagt, dass der Berg den Ort unter sich begraben wird. Viele der Bewohner gehen weg. Nur wenige bleiben und stellen sich der bedrohlichen Zukunft. Da gibt es die desillusionierte, verhärmte Wirtin Susa, in deren Café ESPRESSO die Schicksalsgemeinschaft ihren Zufluchtsort findet. Den Sonderling Martin, der durch einen mysteriösen Autounfall zu Tode kommt. Aber war es wirklich ein Unfall? Esther, seine Freundin, die ob des Verlustes nahezu den Verstand verliert und als einzigen Ausweg die Flucht in die Stadt sieht. Teresa, ihre jüngere Schwester, die sich in Träumen und Racheplänen verstrickt. Und dann gibt es noch Merih, den zugereisten, erfolglosen Regionalmanager, der die hoffnungslose Gegend durch Umstrukturierung wiederbeleben soll und schließlich den alten Wenisch, vereinsamter einstiger Bergbauarbeiter, abgeschoben ins Altersheim. Der Strukturwandel, die Ungleichgewichte in der Natur, der Beginn und Untergang des Bergbaus und seine gesellschaftliche sowie poetologische Bedeutung Gamillscheg greift höchst aktuelle Themen auf, behandelt diese in enigmatischer Weise. Vieles bleibt offen. Der Leser darf die Fäden weiterspinnen.


Leseprobe

Fressen und gefressen werden, das war schon immer so.
Am Anfang war ein Meer.

(0,0)

Alles schläft. Nicht die Nacht, der Tag höhlt die Häuser aus. Tagsüber schwarze, leere Löcher. Manche sind ausgebrannt. Da hat wer randaliert. Da hat wer die alten Matratzen verbrannt, und jetzt liegen nur mehr Drahtgestelle herum. Nachts kann man glauben, dass hier Menschen schlafen, dass hier am nächsten Morgen Menschen aufstehen, in Autos steigen und zur Arbeit fahren. Aber seit der Journalist hier war, sind viele in die Stadt gezogen, und Susa vermietet ihre Zimmer dauerhaft zum Nebensaisonpreis. Man klopft noch immer auf die Plakette am Boden vor der Kirche: ZUR STADT ERHOBEN 1857, wie um zu überprüfen, ob sie noch immer da ist, eingelassen in den Boden. Die Plakette bleibt. Man darf sich offiziell Stadt nennen. Nur die Katzen bleiben über, wenn es Abend wird. Sie haben sich das alte Tourismusbüro ausgesucht; das ist ihr Revier. Sie legen sich in die Regale, rollen sich eng ein, erbrechen Gras zwischen den Altpapierstapeln. Sie zerren tote Maulwürfe durch den offenen Türspalt.

Der rote Knopf im Schaubergwerk funktioniert nicht mehr, und niemand repariert ihn. Wenn man ihn jetzt drückt, gehen die blauen und violetten und weißen Lichter nicht an, die den Fels bestrahlen, geht die Stimme nicht an, die die Sage vom Blintelmann erzählt, und in der Höhle ist es immer nur dunkel. Der Bürgermeister sagt: Wer weiß, ob sich das lohnt. Damit der rote Knopf wieder funktioniert, damit der Blintelmann wieder spricht und die Lichter leuchten, müssen alle elektrischen Leitungen getauscht werden und wer weiß, ob sich das lohnt. Man muss sich vorstellen, sagt der Bürgermeister: Man tauscht die Leitungen und dann auf einmal, genau dann, natürlich genau dann, wird eine tragende Stollenwand gesprengt, oder sie löst sich durch die Erschütterung und ein Stollen klappt in sich zusammen, in einen anderen Stollen, und der in einen weiteren Stollen, und das Geröll aller Stollenwände bricht auf den Ort, die Häuser brechen ineinander, Staub in Staub, wie der Journalist geschrieben hat, dass es passieren wird.

Man denkt an die Zeitung damals. Auf dem Titelblatt war der Umriss des Berges abgebildet, in eine Holzscheibe geritzt, zersetzt von Nagekäfern. Wie ihn die Kinder in der Schule früher in die Kartoffeln geschnitzt und auf Tischdecken gedruckt haben: Auf der einen Seite ein steiler glatter Hang, auf der anderen führt die Flanke etwas länger ins Tal, am Fuße des Berges drängen sich Bäume und Häuser.

Überall Gänge, Löcher. Höhlen.
Stollen und Schächte.

Schon jetzt brechen bei den Sprengungen kleinere Schächte zusammen, stand in der Zeitung. Schon jetzt brechen die Böden ein, und die Steine rieseln die Etagen hinunter und wenn es so weitergeht, ist der Berg irgendwann einfach hohl. Jahrhundertelang grub man von unterschiedlichen Etagen und Seiten Stollen in den Berg, man grub einfach drauflos, den Erzspuren hinterher. Erst im Nachhinein hat man versucht Pläne anzufertigen, aber zu groß, zu verworren das Netz an Stollen. Immer wieder neue Abzweigungen, neue Höhlen und Luftlöcher in der Erde, von denen niemand weiß, zu welchem Schacht sie gehören.

Ob man von dem Grubenunglück in Lengede gehört hat?
   Von der Gasexplosion in dem Bergwerk in Donezk?
   Warum sind Chinas Kohlegruben so gefährlich?
   Manchmal läuft was im Fernsehen.
   Man stellt sich einen großen Knall vor. Oder es passiert ganz leise. Ein Rauschen, wie eine Welle, die ins Tal schlägt. Das man zuerst hört, dann sieht.
   Ein Rauschen, das man sehen kann!

So denkt man es sich zurecht. Wenn man in der Kirche am Weihwasserbecken steht. Wenn man im ESPRESSO an der Bar sitzt und Susa beim Gläserputzen zusieht, oder wenn man die Hand ins Brunnenwasser streckt, wenn man sich eigentlich gerade die Zierleiste der Häuser auf dem Hauptplatz näher anschauen will.

Der Journalist hat unrecht, da sind sich alle im Ort einig. Der Bürgermeister weiß das auch. Aber trotzdem, sagt er. Man denkt natürlich daran. Susas Katze hat einmal ein neues Hüftgelenk bekommen, und in der Woche darauf fand Susa die Katze mit dem steifen Bein angelehnt an der Hauswand. Jemand hat sie überfahren, und der Tierarzt hat das Hüftgelenk noch bei einer anderen Katze einbauen können, Susa hat ein bisschen Geld zurückbekommen, aber nicht viel. Susa denkt daran.

Früher ist man abends oft bei Susa im ESPRESSO zusammengesessen, die Alten und manchmal auch die Jungen. Damals ist man um die kleinen Tische gesessen und nicht alle an der Bar. Auch der Journalist hat sich dazugesetzt, als er im Ort war, damals, vor zehn, fünfzehn Jahren. In Pantoffeln ist er hinunter in den Gastraum. Die Alten haben sich nichts dabei gedacht. Er hat nach dem Leben im Ort gefragt, nach Plänen von den Schächten, nach den Archiven, er hat Schnaps getrunken und Bier und wieder Schnaps, er hat immer mitgetrunken und verstanden, wie das funktioniert: wann der Zeitpunkt ist, aufzustehen und an der Bar noch eine Runde für alle zu holen. Er hat auch erzählt, von sich, dass er eine Tochter hat und dass er gern wandern geht, aber die Tochter nicht und deshalb sei alles schwierig, mit dem Sommerurlaub, weil die Mutter wolle auch lieber in den Süden oder nach New York, das sei schwierig.

Ihr wäre er immer unsympathisch gewesen, sagt Susa. Er habe jeden Tag die Handtücher im Zimmer auf dem Boden liegen lassen, und er wäre nie wirklich betrunken gewesen, immer noch kontrolliert, und immer hätte er nach dem Essen den Teller von sich geschoben, als würde er sich davor ekeln. Sie hätte es gleich gewusst, sagt Susa. Das sagt Susa erst später.

Wer durch den Ort geht, der weiß: Hier passiert etwas. Oder eher: Hier ist etwas passiert. Man grüßt sich nicht auf der Straße. Der rote Knopf ist kaputt. Seit der Journalist hier war, kommen keine Touristen mehr, und der rote Knopf im Schaubergwerk wird nicht repariert. Man weiß nicht mehr, wie das war: ob der rote Knopf kaputtging, als der Journalist hier war, oder ob der rote Knopf schon vorher nicht mehr funktionierte und nicht mehr repariert wurde, weil der Journalist hier war. Auf jeden Fall hat der was damit zu tun. Jetzt ist es immer dunkel in der Höhle, und man sieht nicht, wie die Wände glänzen, wie alles, was glänzt, so viele Farben hat, und man kann sich nicht mehr fragen, ob zuerst das Glänzen oder die Farben waren.


Rezensionen
»Marie Gamillscheg ist Spezialistin für den menschlichen Faktor und die Überzeugungskraft der Details, für die Misstöne der Zukunftsmusik und die Wahrheit des Körpers.« (Daniela Strigl, Frankfurter Allgemeine Zeitung)
»Zu Recht gilt Gamillscheg als eine der aufregendsten jungen Stimmen der deutschsprachigen Literatur.« (Britta Schmeis, SPIEGEL Online)
»Man darf gespannt sein, was diesem glänzenden Debüt folgt.« (Bettina Hesse, Deutschlandfunk)

Die Materialien stammen aus der Publikation: https://www.bmeia.gv.at/fileadmin/user_upload/Zentrale/Kultur/Publikationen/schreibART_III_2020__BMEIA_Programm_web.pdf

 

01.05 - 31.05.2023 ON-LINE