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Nie jestem botem

Aktion „Buch des Monats“: Nava Ebrahimi „Sechzehn Wörter“
In diesem Jahr publizieren wir alle zwei Monate Auszüge aus der österreichischen Gegenwartsliteratur, ausgewählt und übersetzt von Ewa Mikulska-Frindo. 
Redaktion: Monika Gromala
Zusammenarbeit: Universitätsbibliothek in Warschau und Österreich-Bibliotheken in Polen
Werbeaktion im Rahmen der Initiative der Sektion für Internationale Kulturangelegenheiten des Bundesministeriums für europäische und internationale Angelegenheiten in Zusammenarbeit mit der Österreichischen Gesellschaft für Literatur – „Internationale Literaturdialoge”, https://www.literaturdialoge.at



Nava Ebrahimi
„Sechzehn Wörter“

Nava Ebrahimi
, 1978 in Teheran geboren. 1981 emigrierte sie mit ihrer Familie nach Deutschland. Sie wuchs in Köln auf, wo sie Journalismus und Volkswirtschaftslehre studierte. Sie arbeitete als Redakteurin bei Financial Times Deutschland und Kölner StadtRevue sowie als Nahost-Referentin für die Bundesagentur für Außenwirtschaft. Seit über zehn Jahren lebt sie mit ihrer Familie in Graz. Für ihren Debütroman Sechzehn Wörter wurde Nava Ebrahimi mit dem Österreichischen Buchpreis, Kategorie Debüt, sowie dem Morgenstern-Preis ausgezeichnet. Ihr zweiter 2020 veröffentlichter Roman Das Paradies meines Nachbarn wurde auf die ORF-Bestenliste gesetzt. 2021 wurde sie mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis geehrt.

Zusammenfassung

Es gibt Wörter, die wir nicht kennen. Deren Bedeutung wir aber erahnen. Als hätten sie schon immer in uns gewohnt. Und manchmal wollen sie endlich ausgesprochen werden.

Als ihre Großmutter stirbt, diese eigenwillige Frau, die stets einen unpassenden Witz auf den Lippen hatte, beschließt Mona, ein letztes Mal in den Iran zu fliegen. Gemeinsam mit ihrer Mutter wagt sie die Reise in die trügerische Heimat. Der Rückflug in ihr Kölner Leben ist schon gebucht. Doch dann überredet sie ihr iranischer Langzeitliebhaber Ramin zu einem Abschiedstrip nach Bam, in jene Stadt, die fünf Jahre zuvor von einem Erdbeben komplett zerstört wurde. Die Fahrt wird für Mona zu einer Konfrontation mit ihrer eigenen Identität und ihrer Herkunft, über die so vieles im Ungewissen ist. Aber manchmal wird uns das Fremde zu heimlichen Vertrauten. Und über das, was uns vertraut schien, wissen wir so gut wie nicht.

Leseprobe

Maman-Bozorg

Applaus und Gejohle drangen an mein Ohr, gedämpft und von weit her. Ich öffnete die Augen. Es dämmerte. An der Decke zeichnete sich der Kronleuchter aus Messing ab, der hier in jedem Zimmer hing. Ruckartig, als hätte ich einen wichtigen Termin verschlafen, stand ich auf und tastete mich durch den Flur ins Wohnzimmer. Meine Großmutter saß im Halbdunkel auf der Couch, von den Bildern aus dem Fernseher in bläulichen Farben angestrahlt. Den Ton hatte sie so aufgedreht, dass das Gehäuse im Takt der Musik schepperte. Sie schnippte mit den Fingern und bewegte die Schultern rhythmisch vor und zurück. Auf dem weit ausgeschnittenen Dekolleté ihrer schwarzen Bluse glitzerte ein Schmetterling. Dazu trug sie die Jogginghose aus rosa Frottee, mit der sie zu Bett gegangen war. 

»Komm, setz dich zu mir!«, rief sie, ohne ihre Bewegungen zu unterbrechen. »Maman-Bozorg, ist es nicht noch ein wenig zu früh für…« Anstatt den Satz zu beenden, rieb ich mir mit beiden Händen die Augen. 

»In Los Angeles ist es Abend, und die Gala hat gerade begonnen. Wie früh es hier in Maschhad ist, interessiert niemanden.« Sie schnippte weiter im Takt. 

Ich setzte mich neben sie und betrachtete sie von der Seite. Ihre Wimpern waren vor lauter Wimperntusche verklebt. Der Lippenstift verlief in den Fältchen oberhalb ihres Mundes und bildete ein kleines rotes Flussdelta. Den Puder hatte sie so großzügig aufgetragen, dass er sich in den Runzeln auf ihrer Stirn sammelte. Sie hatte immer schon viel Zeit darauf verwendet, sich zurechtzumachen, aber je älter sie wurde, desto mehr uferte es aus. 

Im Fernsehen lief ein iranischer Sender aus Los Angeles namens Tapesh, »Herzschlag«. Drei Mädchen in kurzen Paillettenkleidern tanzten zu persischem Pop um einen alten Mann im Smoking herum. Ich kannte ihn, er hieß Aref. Die Mädchen hüpften umher, als spielten sie in einem Weizenfeld Verstecken. Aref tat, als beachtete er sie nicht. Er besang eine Frau, die Herrscherin über sein Herz, die ihn allmählich umbringe mit ihrer Koketterie. Meine Mutter liebte dieses Lied. Eine Zeit lang hatte sie mehrmals am Tag die Kassette eingelegt, es gehört, zurückgespult, es noch einmal gehört, wieder zurückgespult. Während das Lied die Sehnsüchte meiner Mutter nährte, von denen ich bis heute nichts weiß, hatte ich vor dem Spiegel versucht, dazu zu tanzen, und unbeholfen mit meinen Kinderhüften gewackelt. Ich imitiere Maman; wenn wir in Köln Konzerte iranischer Bands besuchten, stand ich am Rand der Tanzfläche und schaute ihr stundenlang dabei zu, wie sie tanzte. Wie sie mit den Händen geschmeidig Figuren in die Luft zeichnete, wie sie mit dem Becken kreiste, die Schultern vibrieren ließ. Ich prägte mir alles ganz genau ein. 

Aref machte einen Gesichtsausdruck, als litte sein Herz unter der Fremdherrschaft. Oder vielleicht auch darunter, dass er dieses Lied seit Jahrzehnten singen musste, früher in Teheraner Varietés, nun auf amerikanischen Showbühnen, als hätte sich nichts geändert, als sei die Zeit stehengeblieben. 

Kaum hatte Aref die letzte Silbe gesungen, unterbrach ein Werbespot für ein Trainingsgerät das Programm. Amerikanische Bauchmuskeln mit persischer Tonspur. Meine Großmutter wirkte zufrieden und fächerte sich Luft zu. 

»Aref fliegen die Herzen zu, aber er liebt nur mich. Nach seiner großen Neujahrsshow vor ein paar Wochen hat er mir von der Bühne aus einen Heiratsantrag gemacht. Ich sei eine einzigartige Frau und eine großartige Künstlerin, hat er gesagt!« 

Sie schaute mich erwartungsvoll an. Ihre Augen glänzten. Ich wich ihrem Blick aus und starrte auf den Bildschirm, wo die Bestellnummer für den Bauchmuskeltrainer rot aufleuchtete, 676881. Die Telefonnummer meiner Grundschulfreundin Clara war 767881 gewesen. Die erste Nummer, die ich auswendig g lernte. Und die mich, anders als Clara, bis an mein Lebensende begleiten wird. 

Ich spürte, dass meine Großmutter mich musterte. 

»Kämm dir mal die Haare. Du siehst aus wie eine verprügelte Nutte.« 

»Maman-Bozorg!«

»Und setz bitte Tee auf. Ich muss gleich auf die Bühne und habe einen ganz trockenen Mund.« Sie schmatzte mehrmals, etwas knackte. Vermutlich saß das Gebiss nicht richtig. »Trocken wie die Kos einer alten Jungfer.« 

Auf dem Herd stapelten sich die Plastikteller vom Kabab-Lieferdienst. Früher hatten hier um diese Uhrzeit schon Lammhaxen im Schnellkochtopf geköchelt. Ich füllte schwarzen Tee in eine Kanne und setzte Wasser auf. Während ich wartete, stützte ich mich an der Arbeitsplatte ab und schloss die Augen. Ich war müde. Statt, wie geplant, um zweiundzwanzig Uhr war das Flugzeug, das ich in Istanbul bestiegen hatte, erst um zwei Uhr nachts in Maschhad gelandet. Die Maschine hatte mehrere Schleifen über der Stadt gedreht, das Mausoleum des Imam Reza, das in der Dunkelheit in allen Farben funkelte, schien wie eine offene Schatzkiste jedes Mal zum Greifen nah. Doch dann erklärte der Pilot, dass er nicht in Maschhad landen dürfe und nun nach Teheran fliegen müsse. Gestöhne, Geseufze, Gemurmel, schließlich Rufe aus allen Richtungen. 

»Vielleicht ist das Wetter schlecht.« 

»Hat es für Sie eben nach Unwetter ausgesehen?« 

»Ich habe vorhin noch mit meiner Mutter telefoniert. Die sagte, der Himmel sei klar.« »Es ist mitten in der Nacht. Der Himmel unter der Bettdecke Ihrer Mutter ist vielleicht

klar.«

»Wir sollten in Teheran nicht aussteigen. Sonst können wir selbst schauen, wie wir

nach Maschhad kommen.« 

»Wenn Sie nicht aussteigen, wird man Sie bezichtigen, Gegner der Revolution zu

sein.«

»Was ist denn mit den Leichen an Bord?« 

»Welchen Leichen?« 

»Mit diesem Flug werden zwei Leichen transportiert.« 

»Das meint man wohl mit ›jemandem die letzte Ruhestätte verwehren‹.«

»Dieser Zwischenstopp ist die Strafe dafür, dass wir uns in Istanbul amüsiert haben.« Einige lachten. 

Wir landeten in Teheran. Das Flugzeug stand eine Weile herum, ohne dass sich etwas

tat, dann startete die Maschine wieder, ohne weitere Ansage. 

Der Kessel pfiff. Ich füllte das kochende Wasser in die Kanne und wartete, bis es die Farbe von Bernstein angenommen hatte. Ich brachte meiner Großmutter ein Glas voll, dazu zwei Zuckerstückchen. Sie hielt das Glas gegen das Licht der aufgehenden Sonne.

»Genau richtig, jetzt ist es Zeit zu heiraten. Oder wann gedenkst du zu heiraten? Mit dreißig?« »Maman-Bozorg, ich bin doch längst über dreißig.« 

»Alle Frauen machen sich jünger, nur du machst dich älter.« 

»Erinnerst du dich nicht? Ich bin doch vor der Revolution geboren worden.« 

»Vor welcher?« 

Sie nahm ein Zuckerstück in den Mund und nippte am Tee, den Blick auf den Fernseher geheftet. Ein Moderator mit gelglattem Haar erzählte Witze über Ahmadinedschad. »Komm – du hast doch einen Khastegar! Oder zumindest einen Freund? Das kannst du mir nicht weismachen. Was ist denn mit den deutschen Männern los? 

Du bist jung, lebst in Azadi und hast keinen Mann?« 

Sie sagte das oft, »Du lebst in Azadi«, aber es lag dabei nichts Pathetisches in ihrer Stimme. Sie sagte es mit einer Mischung aus Neugier und Neid, und ich spürte schon früh, dass sie es sich aufregender vorstellte, als es tatsächlich war, das Leben in Freiheit. 

»Ich hatte mal einen Khastegar. Er wollte mich, aber ich wollte ihn nicht heiraten.« Ich sagte das, um sie zu beruhigen. Wie sollte ich ihr einen Eindruck davon vermitteln, wie es lief als Single mit Mitte dreißig in einer Großstadt der westlichen Hemisphäre? Wie sollte ich ihr so etwas wie Bindungsängste erklären? Auf Deutsch klang es schon lächerlich. Angst vor zu viel emotionaler Nähe. Dass jemand die Flucht ergreift, sobald eine Beziehung verbindlicher wird. Auf Persisch ging es überhaupt nicht. Für derartige Nuancierungen war die Sprache nicht vorgesehen. 



Die Wahrheit über mein deutsches Liebesleben hätte meine Großmutter nicht verstanden, die verstand ich ja selbst kaum, und die bloße Zahl an Männern, mit denen ich geschlafen hatte, hätte auf der Stelle ihr Herz stillstehen lassen. Dachte ich zumindest. 

»Nur einen Khastegar? Tststsss. Hier stünden sie Schlange für dich. Du hättest schon längst einen Mann. Was rede ich – mehrere! Meine Nichte lässt sich von Männern nach Dubai einladen, in die teuersten Hotels.« 

»Von mehreren?« 

»Ja klar! Der Iran ist ein einziges Freudenhaus geworden! Selbst Neunzigjährige, bei denen du blättern musst, um die Kos zu finden, amüsieren sich ungeniert.« 

»Maman-Bozorg!«

»Ich habe auch einige Verehrer. Zum Beispiel den Konditor am Ende der Straße. Nicht einmal fünfzig Jahre alt. Jedes Mal, wenn er mir eine Schachtel mit Gebäck übergibt, berührt er meine Hände.« 

Sie legte ihre Hand kurz auf meine. Dann hob sie sie vor die Augen und sah sie sich sehr genau an.

»Dein Großvater hat sich zuerst in meine Hände verliebt, als ich ihm im Krankenhaus Tee brachte. Meine Hände waren weiß und schön rundlich. In die kleinen Kuhlen auf meinen Fingergelenken hätte man Erbsen legen können.« 

Vor meinem geistigen Auge erschien ein Handrücken mit Erbsen darauf. Meine Großmutter ließ ihre Hand fallen wie einen nassen Sack. Auch ihre Gesichtszüge wirkten plötzlich schlaff. 

»Aber Schönheit führt einen nur ins Verderben. Schau dir mich, schau dir deine Mutter an. Das Schicksal meint es nur mit hässlichen Frauen gut.« 

Maman-Bozorg nahm wieder Haltung an und blickte auf den Fernseher. 

Eine Frau in einer weißen Robe mit weißem Pelzkragen hatte die Bildfläche betreten. Sie sang von der Sehnsucht nach dem Iran, die Augen hielt sie geschlossen. Maman-Bozorg übergab mir die Fernbedienung und sang mit. Krächzte mit. Sie ahmte die Frau nach, breitete die Arme aus, kreuzte sie vor der Brust, ballte die Fäuste, verzog schmerzerfüllt das Gesicht. Das Lied endete mit einem Tusch. Die Sängerin öffnete die Augen. Close-up. Tränen brachen sich Bahn, rollten die aufgespritzten Wangen hinab. Der Keyboarder im weißen Smoking reichte ihr ein Taschentuch, sie tupfte sich das Gesicht ab und verbeugte sich so zaghaft, als fürchtete sie, der Haarturm könne ihr nach vorne wegrutschen.

Jetzt stand auch meine Großmutter auf und verbeugte sich mit wackligen Knien, ihre dürren Beine waren in der ausgebeulten Frotteehose nur zu erahnen. 

Sie setzte sich wieder und zog am Ausschnitt ihrer Bluse. 

»Hast du schon einmal solche Brüste gesehen? So rund und fest? Sag!« 

Ich sah kurz hin. »Nein, Maman-Bozorg. Du hast tolle Brüste.« 

»Im Schwesternwohnheim haben sie zu mir gesagt: ›Komm, Maryam, zeig uns deine schönen Brüste!‹« 

Noch immer hielt sie den Ausschnitt ihrer schwarzen Bluse umklammert, blickte an sich hinab. 

»Solche Brüste in meinem Alter! Nach zwei gestillten Kindern!« 

»Zwei? Wen außer Maman hast du denn noch gestillt?« 

Sie ließ den Ausschnitt los, zupfte die Bluse zurecht, schob das Kinn nach vorne, nahm mir die Fernbedienung ab und wechselte den Kanal. 

»Du hättest auch schönere Brüste, wenn du auf mich gehört und mehr Zwiebeln gegessen hättest.« Sie zappte weiter. 

»Hast du eine deiner Nichten gestillt?« 

»Deine Mutter hat immer auf mich gehört. Keine ihrer Cousinen hatte so schöne Brüste wie sie. Mit dreizehn trug sie sie schon vor sich her wie zwei reife Orangen. Und dann habe ich sie deinem Vater gegeben. Gott vergib mir.« 

Meine Großmutter hatte jetzt einmal durchgezappt. Sie stoppte wieder bei Tapesh, seufzte laut, sackte in sich zusammen wie ein Akkordeon und schloss die Augen. 

»Maman-Bozorg?«

Sie reagierte nicht. 

Ich sprang auf und hielt meine Wange vor ihren leicht geöffneten Mund. Atemhauch, glaubte ich. Vorsichtshalber tastete ich nach dem Puls ihrer Halsschlagader. Dann zog ich ihr langsam die Fernbedienung aus der Hand und schaltete den Fernseher aus.

© 2017 Nava Ebrahimi


Rezensionen
»Grandioser Debütroman.« Ulrich Gutmair, taz

»Nava Ebrahimis Entwicklungsroman liefert, obwohl er kulturelle Stereotypen durchaus thematisiert, eine ganz eigene Sichtweise auf die Integration von Migranten, die erfrischenderweise ohne erhobenen Zeigefinger auskommt.« Süddeutsche Zeitung Extra

»In ihrem klugen, poetischen Roman ‚Sechzehn Wörter‘ bringt [uns Nava Ebrahimi] die iranische Kultur etwas näher« Sabine Neubert, Neues Deutschland

»Eine Familiengeschichte, die sich wie ein Puzzle zusammensetzt und am Ende ganz anders aussieht, als die Teile es vermuten lassen.« Jens Tönnesmann, Die Zeit




 

01.10 - 31.10.2024 ON-LINE