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Nie jestem botem

Aktion „Buch des Monats“: Reinhard Kaiser-Mühlecker „Wilderer“
In diesem Jahr publizieren wir jeden Monat Auszüge aus der österreichischen Gegenwartsliteratur, ausgewählt und übersetzt von Małgorzata Gralińska
Redaktion: Monika Gromala
Zusammenarbeit: Universitätsbibliothek in Warschau und Österreich-Bibliotheken in Polen



Werbeaktion im Rahmen der Initiative der Sektion für Internationale Kulturangelegenheiten des Bundesministeriums für europäische und internationale Angelegenheiten in Zusammenarbeit mit der Österreichischen Gesellschaft für Literatur – „Jahr der österreichischen Literatur / Internationale Literaturdialoge”, https://www.literaturdialoge.at



Reinhard Kaiser-Mühlecker
Wilderer

Lebenslauf
1982 in Kirchdorf an der Krems geboren, aufgewachsen in Eberstalzell, Oberösterreich. Volksschule ebendort, Gymnasium in Wels, Abschluss 2001. Zivilersatzdienst in San Ignacio de Velasco, Bolivien. Ab 2003 Studium der Landwirtschaft, Geschichte und Internationale Entwicklung in Wien. Veröffentlichungen seit 2008. Er führt die Landwirtschaft seiner Vorfahren.

Preise und Auszeichnungen (Auswahl)
2022 Longlist zum Deutschen Buchpreis mit Wilderer
2022 Bayerischer Buchpreis Belletristik für Wilderer 
2022 Nominierung zum Österreichischen Buchpreis (Longlist) mit Wilderer
2016 Shortlist zum Deutschen Buchpreis mit Fremde Seele, dunkler Wald
2015 Stipendium des Deutschen Literaturfonds e.V.
2014 Österreichisches Staatsstipendium
2014 Adalbert-Stifter Stipendium des Landes Oberösterreich
2013 Outstanding Artist Award (Staatspreis der Republik Österreich)
2013 Kunstpreis Berlin der Akademie der Künste Berlin
2009 Stipendium des Literarischen Colloquiums Berlin
2008 Österreichisches Staatsstipendium
2007 Literaturpreis der Jürgen-Ponto-Stiftung

Veröffentlichungen (Auswahl) 
Wilderer, (Roman), S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2022
Enteignung, (Roman), S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2019 
Fremde Seele, dunkler Wald, (Roman), S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2016
Zeichnungen. Drei Erzählungen, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2015
Schwarzer Flieder, (Roman), Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg, 2014
Roter Flieder, (Roman), Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg, 2012 
Die Therapie. Ein Stück, Hoffman und Campe Verlag, Hamburg, 2011
Wiedersehen in Fiumicino, (Roman), Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg, 2011
Magdalenaberg, (Roman), Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg, 2009
Der lange Gang über die Stationen, (Roman), Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg, 2008 

Klappentext
Jakob führt den Hof der Eltern und kämpft gegen den Niedergang. Mit der Künstlerin Katja baut er eine erfolgreiche biologische Tierhaltung auf, sie heiraten und bekommen einen Sohn. Doch Jakob findet keine Ruhe, sein Zorn bricht immer wieder hervor. Hat Katja ihn getäuscht, hat sie nur mal einen wie ihn haben wollen, einen Bauern? Reinhard Kaiser-Mühlecker erzählt von Herkunft und existentieller Verlorenheit in einer Welt, die sich radikal wandelt.


Leseprobe

Gab es Ihn also wirklich, wie Jakob es eine Zeitlang so unbedingt geglaubt hatte – oder doch bloß zu glauben versucht hatte, auch darin, im großen zeitlichen Abstand, Alexander nacheifernd oder nachgehend, als sei es möglich, »dein Leben zu leben, als wär es das meine«, wie es in irgendeinem Gedicht geheißen hatte, das sie in der Sendung am Sonntagvormittag vorgelesen hatten? Darüber dachte er viel nach in den kommenden Wochen und Monaten, in denen, wie ihm vorkam, sein gesamtes Leben sich veränderte.

Vor langer Zeit, am Ende der Kindheit, mit zwölf oder dreizehn, war etwas über ihn gekommen, das ihn nie mehr verlassen hatte seither, das Gefühl, aus dem Dasein verbannt worden zu sein, aber nicht ins Jenseits oder ins Nichts, sondern wie in ein Abseits, in dem er aber nicht wirklich weiterleben durfte. Am Fenster des Daseins: Dort saß er und wartete. So hatte er sich da auf einmal gefühlt, ausgestoßen … Ein Schatten hatte sich damals über ihn gelegt, von dem er nach bald zehn Jahren längst nicht mehr annahm, er werde je wieder weichen. Selbst dieses unverhofft verfügbare Geld der Großmutter und der damit möglich gewordene Stallbau würden zwar so manches verändern, aber nicht sein Wesen, das ihm das Leben oft so vergällte oder so schwermachte, dass er sich den Tod, wie auch immer herbeigeführt, als die reinste Erlösung, ja fast als Belohnung vorstellte. Und war nicht auch das etwas zutiefst Religiöses, zumindest Katholisches? Solange der Tod aber nicht da war, musste er weitermachen, und das würde er immer tun, einsam und stur wie ein Esel, der, Gattungsmerkmal und evolutionärer Schutz, Schmerzen nicht zeigt, wie sie kürzlich gesagt hatten, er würde immer weitermachen, ohne gegen sein Schicksal aufzubegehren, das heißt, ohne sich noch einmal zu fragen, ob es anderswo, an einem anderen Ort, womöglich anders, nicht unbedingt besser, aber zumindest weniger schlecht wäre.

Und dann war von irgendwoher diese Frau gekommen. Er war so festgefahren in seinen Gewohnheiten und Erwartungen, dass er sie, ähnlich einem, der sich an seine Krankheit klammert, weil sie zu seiner Identität geworden ist, zur zweiten Haut, ja zum Schutz, nicht aufgeben wollte. Katja kam oft darauf zurück und behauptete, Jakob sage immer nein, ganz egal, was man ihn frage, er lehne alles ab und sei im Grunde gegen jede Veränderung, und dass man ihn zu seinem Glück zwingen müsse. Glück? Glücklich? Das war ein großes Wort, das Jakob noch nie mit sich in Verbindung gebracht hatte. Und doch fühlte er sich oft so, dass auf den Zustand eigentlich kein anderes Wort passte oder ihm kein anderes einfiel, das besser gepasst hätte. Zugleich war die Gewohnheit zäh, und sein Misstrauen blieb: Das hier würde nicht dauern; das hier würde keinen Bestand haben; irgendwann, früher oder später, würde sie genug haben, sie würde wieder gehen, in irgendeinem Schulwärterhäuschen oder in ihrer Salzburger Wohnung oder sonstwo, weil der Ort keine Rolle spielte, vor einem leeren Blatt Papier und einem Bündel ungleich langer Stifte sitzen, auf dem Daumennagel kauen und in die Luft schauen, weil es, auch wenn es sie langweilte und trübsinnig machte, das war, was sie am besten kannte. Doch das Misstrauen wurde schwächer und schwächer, und gegen Ende des Jahres machte es sich nur noch selten bemerkbar. Allzu zuverlässig, allzu beständig war Katja, als dass ein Zweifel Platz gehabt hätte daran, dass sie nicht gekommen war aus einer Laune heraus, sondern weil sie mit Jakob leben wollte und mit ihm teilen wollte, was sich teilen ließ.

Das Frühjahr verging rasend schnell, und wenn es auch kälter war als üblich, war es so trocken wie in vielen der voran gegangenen Jahren, wie jetzt so oft, und Jakob konnte die Heuballen verkaufen zu einem guten Preis.

Im Juni, kurz vor der Gerstenernte, kam Fritz endlich heim. Was genau er hatte, wusste Jakob immer noch nicht, nur dass an körperliche Arbeit nicht mehr zu denken war, teilte Fritz Jakob unmissverständlich mit. Nicht einmal auf den Traktor dürfe er mehr steigen, die Ärzte hätten es ihm strikt verboten. Dabei sah er nicht schlecht aus. Und wie schaute er eigentlich dabei drein, als er, vielleicht zum ersten Mal selbst, formulierte, in Worte fasste, dass seine Existenz als Landwirt vorbei war? Wehmütig, gleichgültig oder sogar froh? Jakob konnte es nicht entscheiden, wie es ihm überhaupt oft schwerfiel, den Gesichtsausdruck eines anderen zu deuten. Er wartete darauf, dass Fritz mehr zu der Sache sagte, dass er sagte, wie er sich die Zukunft des Betriebs vorstellte, was er aber nicht tat. Jakob war so irritiert, dass er es nicht schaffte, selbst die Sprache darauf zu bringen. Nahm Fritz denn an, es könne so weiterlaufen wie bisher, obwohl er Jakobs Situation, seine Pläne kannte? Glaubte er, dass Jakob sich weiterhin mit diesem geringen Helferlohn abspeisen lassen würde? Es war höchste Zeit, etwas zu ändern, und als er wieder daheim war, sagte er, er hätte die größte Lust, einfach nicht mehr hinzufahren.

»Die haben sich daran gewöhnt, dass ich es mache«, sagte er. »Sie nehmen es als etwas Selbstverständliches. Sie zahlen für mich nur einen Fünfer, das Restliche bezahlt seine Krankenversicherung. Die ganze Kohle aber, die erwirtschaftet wird, weil ich sie erwirtschafte, die landet auf ihrem Konto. Fünf Euro! Arschlöcher.«

Katja sagte, er solle sich nicht aufregen. Wenn er wolle, sagte sie, rede sie einmal mit dem Alten, und weil Jakob das zwar nicht eigentlich recht war, aber auch nicht ganz unrecht, er jedenfalls nicht sagte, sie solle es nicht tun, tat sie es. Sie fuhr hin und sagte, Jakob habe sie geschickt, sie solle sich einmal vorstellen beim Partnerbetrieb, wenn man das so nennen könne. Fritz, erzählte sie später, habe sie angelächelt und gefragt, ob sie etwas trinken wolle, einen Schnaps? Sie habe zurückgelächelt und gesagt: »Gern.«

Über drei Stunden war sie bei ihm. Als sie zurückkam, roch sie nach Schnaps, und auf ihrem Gesicht lag ein triumphierender Ausdruck. Was sie ausverhandelt hatte, kam im Grunde einem Pachtvertrag gleich. Sie würden eine Jahrespacht von fünfundzwanzigtausend Euro zahlen, dafür Fritz’ Betrieb auf eigene Rechnung führen können, die Ferkel bei Fritz züchten und zu Hause mästen und das Futter für die Tiere auf den Flächen von Fritz anbauen; zudem dürften sie Fritz’ Maschinen benutzen.

»Was heißt »wir?«

»Vielleicht kannst du mir das eine oder andere beibringen. Ich würde auch gerne mit Maschinen arbeiten.«

»Aber die Ställe — das passt doch gar nicht zusammen? Wir haben hier doch nur für uns gebaut.«

»Ich weiß, aber es wird sich gut ausgehen, wenn wir ein wenig umdenken. Ich habe es dir dort aufgezeichnet, wie es funktionieren könnte.«

Und sie zeigte ihm, welche Tiere wann wo stehen würden. Jakob war sprachlos.

»Hat er dir das geglaubt? Dass ich dich geschickt habe?«

»Er lächelt immer so, dass man nicht weiß, was er denkt. Ob er was denkt, was er nicht unbedingt denken muss. Weißt du, was ich meine?«

»Fünfundzwanzigtausend sind viel.«

»Das kommt mit den Hühnern herein. Darum kümmere ich mich. Und mit den beiden Ställen kommen bei der aktuellen Marktlage achtzigtausend herein. Im schlechtesten Fall bleiben davon fünfzig, im besten etwas mehr als sechzig.«

»Gibt es einen Vertrag?«

»Ich habe gesagt, du würdest bald vorbeikommen. Ich bin ja nur deine … na, du weißt schon.«

»Fünfzigtausend auf jeden Fall, sagst du?«

»Hier habe ich es ausgerechnet, schau her.«

Jakob folgte staunend ihren Ausführungen. Penibel hatte sie alles notiert, was sie an Zahlen in Erfahrung bringen konnte. Jakob hatte es ihr nicht leicht gemacht mit seinen oft unklaren Angaben. Und wie sollte er auch wirklich wissen, wie hoch die Stromrechnung im Jahr war oder wie hoch die Versicherungsprämien für die Gebäude waren? Gab es eine Hagelversicherung? Lief doch alles auf Bert, der es bestimmt genauso wenig wusste. Und schon gar nicht konnte Jakob wissen, wie viel Diesel man brauchte für die Bearbeitung von dreißig Hektar Land.

Auch die Eltern staunten, und Jakob dachte, dass sie sich wohl nicht darüber wunderten, dass es solche jungen Frauen gab. Solche Anpackerinnen, die voll Lust auf Arbeit und Leben zugleich waren, gab es hier zuhauf: es gab eigentlich nur solche Frauen hier; anders waren die immer noch größer werdenden Betriebe gar nicht mehr zu führen als mit Menschen dieses Schlags, Menschen, die nicht müde wurden und nicht aufgaben; sie wunderten sich allerdings darüber, dass sich eine solche Frau ausgerechnet hierherverirrt hatte; dass Jakob eine solche an Land gezogen hatte.

Und Jakob selbst? Er wunderte sich von allen am meisten. Er war nicht verliebt in Katja. War es nie gewesen. Vielleicht konnte er sich gar nicht verlieben. Aber er liebte sie. Er liebte sie, als würde er sie seit langem schon kennen. Und kannte er sie nicht schon seit immer? Sie war die Frau, nach der er sich gesehnt hatte, wenn er sich nach einer gesehnt hatte, und die es nie gegeben hatte. Ja, der Tod wäre eine Belohnung gewesen für die Qual der Vergangenheit, und wie oft war ihm diese Belohnung versagt geblieben: Klack … Wie oft hatte Er ihm diese Belohnung versagt. Jakob hatte die Entscheidung in Seine Hand gelegt, und Er hatte anders entschieden. Er hatte ihn leiden lassen, nicht um ihn mit dem Tod, sondern um ihn mit Katja zu belohnen. Und Jakob war Ihm dankbar dafür. Wie falsch wäre es gewesen, hätte er das nicht erleben dürfen.

Copyright © 2022 S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main



Rezensionen

Reinhard Kaiser-Mühlecker aber ist ein Roman gelungen, der den Realismus eines zeitgenössischen Bauernhofes in die Richtung existenzialistischer Literatur lenkt. [...] Vom ersten bis zum letzten Satz bannend zu lesen.“ Ursula März, Die Zeit
Wilderer erzählt von einem jungen Mann, der – von seiner Vergangenheit und Herkunft geplagt – kein Glück finden kann.“ Ulrich Rüdenauer, WDR3 Lesestoff
Ein Buch, das bei der Lektüre fühlbare Schmerzen auslöst. Das schafft nur bedeutende Literatur.“ Peter Mohr, Lokalkompass 
Wie durchs dichte Unterholz geht man durch diesen Roman. Man wird ihn nicht schnell los. Er wildert noch lange in einem herum.“ Elmar Krekeler, Welt am Sonntag





01.10 - 31.10.2023 ON-LINE