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Nie jestem botem

Aktion „Buch des Monats“: Sepp Mall „Ein Hund kam in die Küche“
In diesem Jahr publizieren wir jeden Monat Auszüge aus der österreichischen Gegenwartsliteratur, ausgewählt und übersetzt von Małgorzata Gralińska. 
Redaktion: Monika Gromala
Zusammenarbeit: Universitätsbibliothek in Warschau und Österreich-Bibliotheken in Polen

Werbeaktion im Rahmen der Initiative der Sektion für Internationale Kulturangelegenheiten des Bundesministeriums für europäische und internationale Angelegenheiten in Zusammenarbeit mit der Österreichischen Gesellschaft für Literatur – „Jahr der österreichischen Literatur / Internationale Literaturdialoge”, https://www.literaturdialoge.at




Sepp Mall
Ein Hund kam in die Küche

Lebenslauf
Sepp Mall, geboren 1955 in Graun in Südtirol/ Italien, ist ein deutschsprachiger Schriftsteller. Er studierte in Innsbruck und lebt als Autor und Herausgeber in Meran. Sepp Mall schreibt Gedichte, Erzählungen, Romane und Hörspiele. Er ist Gründungsmitglied der Südtiroler Autorenvereinigung (SAV), Mitglied der Grazer Autorenversammlung, der IG Autorinnen Autoren (Wien) und im P.E.N.-Club Liechtenstein. 

Preise und Auszeichnungen (Auswahl)
1996 Meraner Lyrikpreis 
1996/97 Staatsstipendium des österreichischen Bundesministeriums
2005 wurde der Roman Wundränder zum „Innsbruck-liest“-Buch gewählt, das Buch ist heute Schullektüre
2017, 2018 Großes Literaturstipendium des Landes Tirol
2023 Deutscher Buchpreis – Longlist (Ein Hund kam in die Küche)

Veröffentlichungen (Auswahl)
Läufer im Park. Gedichte. Haymon, Innsbruck 1992
Verwachsene Wege. Erzählung. Haymon, Innsbruck 1993
Brüder. Erzählung. Haymon, Innsbruck 1996
Landschaft mit Tieren, unter Sträuchern hingeduckt. Gedichte. Haymon, Innsbruck/ Wien 1998
Wundränder. Roman. Haymon, Innsbruck/ Wien 2004
Wo ist dein Haus? Gedichte. Haymon, Innsbruck/ Wien 2007
Letzte Ausfahrt. Erzählung. Ed. Alpha & Beta, Meran 2010
Berliner Zimmer. Roman. Haymon, Innsbruck-Wien 2012
Schläft ein Lied. Gedichte. Haymon, Innsbruck-Wien 2014
Hoch über allem. Roman. Haymon, Innsbruck-Wien 2017
Ein Hund kam in die Küche. Roman. Leykam, Graz-Wien-Berlin 2023

Ein Hund kam in die Küche (Klappentext)
E
ine Familie aus Südtirol entscheidet sich 1942 im Zuge der »Option« für die Auswanderung ins Deutsche Reich. Der 11-jährige Ludi erzählt von den letzten Tagen im Dorf und der ersten Station im Deutschen Reich: Innsbruck. Auf Anweisung der Ärzte muss sein behinderter Bruder Hanno in eine Anstalt bei Hall gebracht werden. Die restliche Familie zieht weiter nach Oberösterreich. Der Vater wird in die Wehrmacht eingezogen und auch Hanno kehrt nicht mehr zurück. Ein Brief aus einer »Heil- und Pflegeanstalt« des Reiches ist alles, was von ihm bleibt. Ein bewegender Roman, der von Auswandern und Heimkehren erzählt, und in bilddichter Sprache der Trauer eines Kindes um seinen Bruder nachgeht.


Leseprobe

In unserer Familie gab es keine Wörter für den Abschied. Mein Vater hatte keine und meine Mutter auch nicht. Als wären sie ihnen mit der Zeit verloren gegangen, aus dem Sprachsack gefallen, Buchstabe für Buchstabe, und irgendwo liegen geblieben, wo sie niemand mehr fand. Oder sie schluckten sie einfach hinunter, jedes Mal, wenn sie ihnen in den Mund kamen.

Als wir im Frühling ein Büschel blassroter Nelken auf Mutters Familiengrab setzten, musste es so sein wie immer. Mama kniete sich auf das festgetretene Kiesbett und verzog keine Miene, als ich sie fragte, wie lange die Pflanzen wohl hielten und in wie vielen Wochen es wieder neue bräuchte. Sie beugte sich über die hölzerne Grabumrandung und drückte den Wurzelballen in das schwarze Loch, das sie mit den Händen vertieft hatte. Ich wiederholte meine Frage, Mama hielt in ihrer Bewegung inne, dann schüttelte sie nur leicht den Kopf und fuhr fort, die krümelige Erde rund um die Blumen festzudrücken.

Die Großeltern lagen hier begraben und auch sie sagten nichts. Es waren Mamas Vater und Mutter, auf dem Grabkreuz standen ihre Namen und Zahlen und dass sie in Frieden ruhen sollten. Das Todesjahr war bei beiden dasselbe, es war das Jahr, in dem ich auf die Welt gekommen war. Wenn meine Mutter davon erzählte, sagte sie, dass zuerst der Großvater gestorben war, davongegangen, nannte sie es, und eine knappe Woche später sei sie schon im Kindbett gelegen und die Hebamme habe mich mit einer Zange aus ihrem Bauch herausgeholt. Die Großmutter, die uns mit ihrem breiten Lächeln vom Grabmedaillon aus zuschaute, sei da noch dabei gewesen, aber einen Monat später, auf den Tag genau, habe auch sie sich davongemacht. Aus Kummer, sagte Mama, weil so alt sei sie noch nicht gewesen. Gerade einmal achtundsechzig. Von ihrem Mann geholt worden, hätten einige im Dorf gesagt. Nicht zu ihr direkt, nicht zu jemandem aus ihrer Familie, aber es sei ihr doch zu Ohren gekommen.

Stell dir vor, sagte sie von unten herauf, so eine abgrundtiefe Dummheit. Sie beugte sich vor und strich mit den Händen die Erde glatt. Von drüben kannst du niemanden mehr holen, blödes Altweibergeschwätz. Und zwei Todesfälle und eine Geburt innerhalb von vierzig Tagen, da hätten sie ruhig ihr Maul halten können – Länger als vierzig Tage halten diese Nelken hier bestimmt nicht, fiel ich ihr ins Wort, dann muss jemand neue setzen.

Mutter richtete sich auf und sah mich überrascht an. Sie wischte die schmutzigen Finger an ihrer Schürze ab und ließ meine Behauptung über den Grabsteinen verhallen. Die Worte flogen mit dem Wind davon, über die Friedhofsmauer mit der hölzernen Abdeckung, über die Wipfel der nahen Kastanien und Birken hinauf in die Mailuft über dem Kirchturm. Ich blickte ihnen nach, bis sie im weiß gesprenkelten Himmel verschwammen.

Wörter, die etwas mit Lebewohl oder Wiedersehen zu tun hatten, gab es bei uns seit ein paar Monaten nicht mehr. Und bei allem, was wir taten, war es verboten zu sagen, dass wir dies oder jenes hier bei uns in Mariendorf vielleicht nie mehr tun würden – meine leichtfüßige Mutter nicht, Vater mit seinem viereckigen Schnauzbart nicht, mein kleiner Bruder Hanno und ich nicht. Auch das Wort Zukunft hörten meine Eltern nicht gerne. Wir schwebten alle in der Gegenwart, ausschließlich, und überall, wo wir uns befanden, war es gerade jetzt. Jetzt, jetzt, jetzt. Die Fragen, in denen es um etwas anderes ging als um die Gegenwart, endeten in Schweigen oder Schulterzucken.

Hanno musste etwas aufgeschnappt haben, was ihn beunruhigte, aber was genau in seinem Kopf los war, verstand ich nicht. Seit einer Woche überfiel er mich jeden Abend im Bett mit seinem Gestammel. Meistens war ich gerade eingeschlummert, wenn er sich zu mir drehte und mit dem Finger gegen meine Schulter stupste.

Was willst du schon wieder?, fragte ich.

Er riss die Augen auf, als würde ihm das beim Sprechen helfen. Dann wiederholte er die abgebrochenen Sätze, die er mir schon an den Abenden zuvor ins Ohr geflüstert hatte, jedes Mal im selben Wortlaut.

Du, sagte er, und ich hörte, wie er tief Luft holte, weißt du?

Ja?

Er setzte noch einmal an, die Silben und Wörter sträubten sich, so wie immer.

Ich warte, sagte ich.

Er drehte seinen Kopf hin und her und irgendwann gelang es ihm doch, die drei, vier Laute über seine Zunge zu drücken und zwischen den Zähnen herauszupressen.

Mama weg, sagte er, Mama weg, Mama fahren. Er hielt den Atem an, sein ganzes Gesicht eine Frage.

Was meinst du?

Fahren, wiederholte er, Mama wegfahren.

Und ich antwortete ihm so, wie ich es jeden Abend machte. Wir fahren alle weg, Hanno, sagte ich und wischte ihm den Speichel vom Kinn. Wir fahren alle zusammen. Mama und du und Vater und ich. Die ganze Familie. Du brauchst keine Angst zu haben. Hanno, Mama, Tata, Ludi, alle zusammen, du wirst schon sehen.

Dann war es still, bis ich nach einer Weile hörte, wie er erleichtert aufatmete. Er drückte die Knie gegen meine Flanke, rollte sich zusammen, wie es junge Hunde machen, und ich spürte, wie die Anspannung allmählich aus seinem kleinen Körper wich. Als ich schon dachte, dass er eingeschlafen wäre, vernahm ich, wie er meine letzten Worte flüsterte, alle zusammen, alle zusammen.

Es ist noch ein bisschen Zeit, sagte ich leise in sein Ohr und in der beginnenden Dämmerung sah ich, wie er lächelte. Dann drehte er sich weg von mir, als wollte er mit seinen Gedanken allein sein, und bald drehte auch ich mich zur Seite, um leichter in den Schlaf zu trudeln.

Zurückgeblieben, hieß es. Das sagte die Nachbarin aus dem Haus über der Straße, das sagte Onkel Rudi, auch die Frau vom Metzger sagte es, dann tätschelten sie den schmalen Kopf meines Bruders und sprachen mit Mama über den Wind und das Wetter. Es werde bald schlimmer werden, sagten sie, man sehe das doch kommen.

Wir müssen alle Opfer bringen, sagte die Metzgerin, kniff Hanno in die Wange, und als dieser zu weinen begann, holte sie ein Bonbon aus ihrer Kittelschürze. Die Nachbarin zog ihr Kopftuch zurecht, der Frühling war immer noch kalt, und dann deutete sie hinauf zu den Bergen, wo der Nordwind die Schneefahnen über die Gipfel flattern ließ. Der ganze Wirbel, sagte sie, der kommt über den Kamm von draußen herein. Der Wirbel und dieses ganze Geschrei. Man muss gut aufpassen, woher der Wind bläst, sagte die Metzgerin, steckte Hanno das Bonbon in den Mund.

Wenn ich durch das Dorf ging, die Hauptstraße hinunter, um im Laden einzukaufen, was Mutter mir aufgetragen hatte, oder um das Paar Schuhe abzuholen, das neu besohlt worden war, versuchte ich mit aller Kraft nicht daran zu denken, dass dies vielleicht das letzte Mal war. Das letzte Mal, dass ich quer über den Kirchplatz ging. Das letzte Mal am Dorfbrunnen vorbei. Oder dass ich das letzte Mal den Schusterladen betrat mit seinem Geruch nach Leder, Beize und Zigarettenrauch, der stundenlang an einem hängen blieb. Ich lenkte mich ab, indem ich die Menschen zählte, die die Straße überquerten, wobei ich weiblich und männlich gegeneinander aufrechnete. Aber als der Schuster, der mir die Schuhe über den Arbeitstisch hinschob, fragte, wie lange wir überhaupt noch da seien, hier in Mariendorf, war alles dahin. Vielleicht fahren wir auch nie, sagte ich.

Der Meister war ein mürrisch dreinblickender Mensch, vor dem ich mich fürchtete, seit ich das erste Mal in seinem Laden gewesen war. Er sah aus wie das Walross auf den Tierbildern, die im Gang unserer Schule hingen, und wenn er seine Pfeife aus dem Mund nahm, zeigte er unten seine langen gelben Zähne. Schon schoss mir der Gedanke durch den Kopf, dass ich dieses Gesicht nie mehr sehen würde, denn da, wo wir hingingen, gäbe es vielleicht keinen Schuster oder auf alle Fälle einen anderen. Ohne Schnauzbart, ohne Fragen, auf die ich keine Antwort wusste, und mit einem Gebiss, das einem keinen Schrecken einjagte. Und für einen Augenblick war ich froh, dass es so sein könnte.

Copyright © Leykam Buchverlagsgesellschaft m.b.H. & Co. KG, Graz – Wien – Berlin 2023


Rezensionen
Dieses Drama – Folge einer fundmental falschen Familienentscheidung – wird zum Dreh- und Angelpunkt dieses so taktvollen, wie rohen Romans, der noch einmal das volle Ausmaß ideologischer Fehlzündungen der Binnenstruktur einer Familie aufführt. […] Man bleibt schockiert zurück nach dieser Lektüre.“ Katharina Teutsch, Deutschlandfunk

Es ist einfach eine Geschichte gegen das Vergessen und sehr sehr sehr berührend geschrieben. […] Er ist einer – der Sepp Mall – der südtiroler Geschichte extrem gut aufarbeitet und hier hat er eben den Kindern – die keine Stimme haben […] – eine Stimme gegeben.“ Petra Hartlieb, Studio 2.




01.12 - 31.12.2023 ON-LINE