Sofia Goscinski aus Wien und Olga Micińska aus Warschau beziehen in einer Duo-Ausstellung künstlerische Gegenposition zu Designästhetik und Werbeoptik aktueller Kunstproduktion. Goscinski arbeitet vor allem mit Skulptur, aber auch mit Grafik, Text, Video, Foto und Performances. Olga Micińska sucht in der Beziehung zwischen Bildhauerei und traditionellem Handwerk nach neuen Ausdrucksformen. – Manuelle Produktion und Eigenleben des Materials erwecken vertraute Bilder und erschaffen gleichzeitig eine mystische Atmosphäre, so Kuratorin Victoria Dejaco.
Hier die Kuratorin über sich selbst und die Ausstellung:
Kontemplation ist das Schlüsselelement Victoria Dejacos kuratorischer Praxis, die sich auf Einzel- und Doppelpräsentationen wie diese von Sofia Goscinski und Olga Micińska fokussiert, weil sie dem Werk den nötigen Existenz- und Wirkungsraum geben. In den Objekten der beiden Künstlerinnen, die manchmal wie archäologische Funde und historische Artefakte wirken, spiegeln sich die Kontemplation der Künstlerinnen im Entstehungsprozess und die involvierten handwerklichen Vorgänge. Solche Tendenzen wirken gegenläufig zu den glänzenden Oberflächen in digitaler Ästhetik marktkonformer Künstler unserer Zeit. Hier geht es um eine Auseinandersetzung und ein Vertieft-Sein jenseits vom Übermaß an Reizen, Informationen und Impulsen unseres heutigen Smartphone-gesteuerten Alltags. Das Smartphone ist ein Spiegel unseres Selbst. Alle unsere Programme und die darauf gespeicherten Cookies füttern uns mit dem, was wir selbst suchen, kanalisieren unsere Interessen, erkennen unsere Gesichter und die unserer Freunde. In einer Zeit, in der die Gesellschaft ständig egozentrischer wird, und jeder seine eigenen Interessen voranstellt, ist das Smartphone das perfekte Sedativum, um sich immer nur wenige Sekunden einer Information oder einem Bild zu widmen ohne sich jemals mit einem Subjekt tatsächlich auseinanderzusetzen. Die kulturellen Leistungen der Menschheit, zu denen auch die Kunst gehört, verdanken wir einer tiefen, kontemplativen Aufmerksamkeit(1). Erst durch Aufmerksamkeit, Kontemplation (nach dem Duden: "konzentriert-beschauliches Nachdenken und geistiges Sichversenken in etwas") können Menschen zu kritischem Denken fähig sein. Nur kritisches Denken, ein sich befassen mit Unbekanntem, macht das Individuum zu einem vollwertigen Teil der Gesellschaft. Niemals war das wichtiger als heute, da unsere Demokratien gefährdet sind und die Zeit drängt, einen besseren Umgang miteinander und mit unserer Erde zu finden. Denn noch haben wir keinen anderen bewohnbaren Planeten gefunden(2). Die Werke von Olga Micińska und Sofia Goscinski entstehen in diesem Raum jenseits von Oberflächen inmitten von Tiefen. Sie beschäftigen sich mit (sozialen) Werten und Ritualen, Tradition und Nachhaltigkeit und der Beziehung die wir zu Objekten und Materialien haben. Objekte, nicht digitale Geräte, Objekte mit Aura und Charakter, besetzt mit Mystik und Faszination.
Die in der Ausstellung 'The Sensibility of Structure' präsentierten Werke sind zum Teil vertraut und doch nicht. Sie regen eine Auseinandersetzung an, die eine mögliche Erklärung Ihrer Existenz abgeben könnte. Sie sind assoziierbar mit architektonischen Elementen, spirituellen Ritualen, mittelalterlichen Gerätschaften oder Waffen und vielem mehr. Das Publikum der Ausstellung wird ein bisschen in die Rolle eines Cargo-Kult-Mitglieds versetzt:
In der Gemeinschaft des Cargo-Kultes verehren indigene Völker Objekte, deren Existenz sie sich nur durch übernatürliche Mächte erklären können. Als die koloniale Ausbeutung des Bodens und der Bewohner in Melanesien, einer Inselgruppe nördlich von Australien, durch europäische Unternehmen begann, konnten viele Indigene nichts mit den mitgebrachten Technologien und Werkzeugen anfangen. Woher die neuen Dinge stammten, konnten sie sich nicht erklären und schrieben ihnen eine göttliche Herkunft zu. In weiterer Folge, brachte auch das Kriegsmaterial, das während des Zweiten Weltkrieges massenhaft von der US-Armee auf diese Inseln abgeworfen wurde (u.a. Fertigkleidung, Konservennahrung, Zelte, Waffen), drastische Änderungen des Lebensstils der Inselbewohner mit sich: Sowohl die Soldaten als auch die Einheimischen, wurden mit Materialmengen regelrecht überschüttet. Mit dem Kriegsende bzw. der Unabhängigkeit wurden die Flughäfen verlassen und kein neues „Cargo“ mehr abgeworfen. Darum bemüht, weiter Cargo per Fallschirm oder Landung eines Flugzeuges zu erhalten, imitierten Kultanhänger die Praxis, die sie bei den Soldaten, Seeleuten und Fliegern gesehen hatten. Sie schnitzten Kopfhörer aus Holz und trugen sie, als wären sie Fluglotsen. Sie positionierten sich auf den Landebahnen und imitierten die wellenartigen Landungssignale. Sie entzündeten Signalfeuer und -fackeln an den verlassenen Landebahnen und Leuchttürmen. Die Kultausübenden nahmen an, die Ausländer verfügten über einen besonderen Kontakt zu den Ahnen, welche Sie mit Objekten aus dem Jenseits beschenkten. Die Nachahmung der Ausländer verband sich mit der Hoffnung, auch den Einheimischen möge ein solcher Brückenschlag gelingen. In einer Art der sympathetischen Magie bauten sie Flugzeugmodelle in Originalgröße aus Stroh oder schufen Anlagen, die den militärischen Landebahnen nachempfunden waren. Auch Goscinskis und Micińskas Objekte scheinen aus einer anderen Welt, einer Welt jenseits der Technologie. Die Ausstellung wurde konzipiert in der Intention den Zuschauer durch die Mystik der ausgestellten Werke in Kontemplation zu versetzen. Die Arbeiten von Sofia Goscinski und Olga Micińska regen Neugierde und Fantasie an und wirken so unbewusst zeitgenössischen Tendenzen der Leistungsgesellschaft entgegen.
Victoria Dejaco
Graz, Februar 2017
1 Byung-Chul Han, Müdigkeitsgesellschaft, Berlin 2011
2 Siehe R. Buckminster Fuller, Operating Manual for Spaceship Earth, 1968 und Paul Crutzen, Mike Davis, Michael D. Mastrandrea, Stephen H. Schneider, Peter Sloderkijk, Raumschiff Erde hat keinen Notausgang, 2011