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Nie jestem botem

Aktion „Buch des Monats“:
Helena Adler „Die Infantin trägt den Scheitel links“
In diesem Jahr publizieren wir jeden Monat Auszüge aus der österreichischen Gegenwartsliteratur, ausgewählt und übersetzt von Małgorzata Gralińska.
Redaktion: Monika Gromala
Zusammenarbeit: Universitätsbibliothek in Warschau und Österreich-Bibliotheken in Polen

Werbeaktion im Rahmen der Initiative der Sektion für Internationale Kulturangelegenheiten des Bundesministeriums für europäische und internationale Angelegenheiten in Zusammenarbeit mit der Österreichischen Gesellschaft für Literatur – „Jahr der österreichischen Literatur / Internationale Literaturdialoge”, https://www.literaturdialoge.at



Helena Adler
Die Infantin trägt den Scheitel links

Lebenslauf
Helena Adler, geboren 1983 in Oberndorf bei Salzburg. Studium der Malerei am Mozarteum sowie Psychologie und Philosophie an der Universität Salzburg. Diverse Ausstellungen und Kunstaktionen, Veröffentlichungen in Anthologien und Literaturzeitschriften. Lebt als Autorin und Künstlerin in der Nähe von Salzburg.

Preise und Auszeichnungen (Auswahl)
2022 Shortlist Österreichischer Buchpreis
2020 Longlist Deutscher Buchpreis
2020 Shortlist Österreichischer Buchpreis
2020 Projektstipendium Literatur BKA
2018 Jahresstipendium Literatur, Salzburg

Veröffentlichungen (Auswahl)
Fretten (Roman), Jung und Jung, Salzburg und Wien 2022
Die Infantin trägt den Scheitel links (Roman), Jung und Jung, Salzburg und Wien 2020

Die Infantin trägt den Scheitel links (aus dem Klappentext)
Dass sie, die jüngste Tochter, das zarte Kind, den Bauernhof ihrer Eltern abfackelt, ist nicht nur ein Versehen, es ist auch Notwehr. Ein Akt der Selbstbehauptung gegen die Zumutungen des Heranwachsens unter dem Regime der Eltern, einer frömmelnden, bigotten Mutter und eines Vaters mit einem fatalen Hang zu Alkohol, Pyrotechnik und Esoterik. Von den älteren Zwillingsschwestern nicht zu reden, zwei Eisprinzessinnen, die einem bösen Märchen entsprungen sind und ihr, der Infantin in Stallstiefeln, übel mitspielen, wo sie nur können. Und natürlich fehlen auch Jäger, Pfarrer und Bürgermeister nicht in dieser Heuboden- und Heimatidylle, die in den schönsten Höllenfarben gemalt ist und in der es so handfest und herzhaft zugeht wie lange nicht.


Leseprobe

Home Sweet Home

Nehmen Sie ein Gemälde von Pieter Bruegel. Nun animieren Sie es.

Wir essen schwarze Regensuppe zum Nachtmahl. Der grüne Kachelofen brütet in der Ecke, in der Stube dampft es, doch mir ist kalt. Die Bewohner des Hauses haben sich im Parterre versammelt. Nicht oft verlassen die Urgroßeltern den ersten Stock. Sie sind die Urgesteine hier am Hof und wer sie bewegen will, beißt auf Granit. Wir, die Eltern, die Schwestern und ich, wohnen bei ihnen, nicht sie bei uns. Unter einem undichten Dach in einem verschuldeten Haus, das sie nach dem Krieg erworben haben. Die langen Finger der Urgroßmutter stehen wie spitze Holzschiefer vom Tisch ab, um den wir alle sitzen. Die Arbeiterhände des Urgroßvaters sind übersät mit Altersflecken und hervortretenden Adern. Sie ragen aus den Ärmeln seiner braunen Wollweste heraus wie die Köpfe von Schildkröten aus ihrem Panzer. Nackt und zerfurcht. Die Hände der beiden berühren einander nicht. Sie greifen nicht nach oben, denn es sind Hände aus dem Bauernstand. Sie Magd, er Knecht, die Genetik einer Gesindeschicht. Ihre Hände ackern, jäten und säen. Sie sind Sicheln fürs Getreide und Sensen fürs Gras. Auf der Kommode steht das Hochzeitsfoto des Ehepaares. Es zeigt den Urgroßvater stolz auf einem Stuhl thronend. Die Urgroßmutter steht hinter ihm, herrscht, mit Würde, aber ohne Begeisterung, über ihn, über uns und das ganze Ackerland. Sie schämt sich dafür, dass er kleiner ist als sie. »Scham ist nicht dasselbe wie Reue«, versichert sie, während sie die Kartoffeln schält, und bereut nichts. Dann kerbt sie Unmengen an Butterschmalz aus dem Plastikbecher, schmiert alles in die Gusspfanne und ertränkt die kleinen gelben Scheiben darin, die wir gerne salzig essen. Überall riecht es nach dem Fett. An unseren Händen und vielleicht auch in ihrem Haar. Aber das wissen wir nicht genau, weil wir ihr lieber nicht zu nahe kommen. »Außerdem«, ergänzt das uralte Mütterlein, »muss man bescheiden sein. Bescheidenheit muss der Mensch erst lernen«, sagt sie und klopft mir auf die Finger, die zur Kostprobe ansetzen. »Zuerst Demut, dann Bescheidenheit«, fährt sie fort. Doch devot ist sie nie, außer wenn sie glaubt, dass der liebe Gott gerade zuschaut.

Meine Hände sind klein, babyweich wie Pfoten. Ich blicke in die Runde der Bestien. Der Vater ein Grizzly, die Mutter ein Greifvogel mit Frauenkopf und die Schwestern, o Gott, die Schwestern! Zum Nachtisch riecht es milchig süß und leicht nach Verderben. Ein verstörender Geruch nach Frischgeborenem und Erwürgtem. Unter der Treppe im Vorhaus friert ein leerer Hundekorb. Die Spur führt eindeutig zum Vater, denn auf dessen Hand haftet noch der Flaum der Welpen. Noch vor ein paar Tagen hat er mir diese Hand an die Stirn gehalten, um mein Fieber zu lindern. Seine Temperatur stieg, meine sank. Er kann heilen und töten, ist Förster und Wilderer in einer Person. Das wilde Vatertier ist lieb zu seinen Kindern, doch die anderen frisst es auf. Nur die Mutter treibt Bärenhatz mit ihm. »Tanz, Bär!«, schreit sie und schärft ihre Krallen an den eigenen Zähnen. Die Krallen der Mutter sind messerscharf. Gelb und schrecklich sind ihre hakenförmigen Klauen, am liebsten jagt sie kleine Angsthasen und Faultiere wie mich. Ihr spitzer Schnabel ist ein Hackebeil, damit kann sie Gelenke brechen und Knochen zerschmettern. Der aufgestellte Federschopf und ihre stechenden Augen verleihen ihr eine abgründige Fürstlichkeit. Wenn sie schreit, erklingt ein sopranes Krächzen, das einen an Ort und Stelle einfriert.

»Wie viele Vögel sitzen auf deinem Kopf?«, fragen mich die Zwillingsschwestern, nachdem sie mir ihre Finger mit den gespitzten Nägeln in die Kopfhaut gebohrt haben. Ich antworte schon lange nicht mehr, weil sie falsch spielen. »Wegfliegen oder Nest bauen?«, fragen sie dann, »wegfliegen oder Nest bauen?«, wiederholen sie drei Mal und schreien vergnügt. »Abzwicken«, antworte ich, jammernd und heulend, viele Male, weil es immer schmerzt. Für alle anderen sehen sie aus wie ganz gewöhnliche Mädchen, mit ihren blassen Gesichtern und den blonden Zöpfen erinnern sie beinah an zwei Engel. Nur ich kann hinter ihre Maskerade sehen. Darunter sind sie abgemagert bis auf die Knochen. Die Eineiigkeit nagt ihnen am Leibe. Sie haben spitze gelbe Zähne, statt der Augen Hörner neben der Nase, statt der Haare rostige Nägel. Und aus ihrem Mund stinkt es wie aus der Hölle. Heute rieche ich nichts, denn sie halten ihren Atem an. Sie haben Angst.

Der Raum duckt sich, macht sich klein, damit wir näher zusammenrücken. Die Kühe brüllen zum Rosenkranz, sie blähen ihre Resonanzkörper, während ihre Finger an kleinen Holzperlen hinaufklettern und diese an dünnen Fäden hinunterschieben. »Ich glaube an Gott, den Vater«, beten sie im Chor. Draußen peitscht der Nordwind die Grashalme aus. Widerspenstiges Stroh klemmt sich zwischen die Fensterläden und drückt herein. Der Himmel donnert, grollt und erleuchtet die Nacht mit Blitzen. Bäume fallen um. Aus den nassen Lochmäulern der Viermagentiere tropft literweise Speichel. Gehörnte Geifergeschöpfe. »Auf der Weide kannst du sie mit dem Schlagstock bremsen«, sagt der Urgroßvater immer, »du musst ihnen nur auf den Schädel dreschen.« Wenn die ganze Herde in Fahrt kommt, das weiß ich, muss man schneller laufen als sie oder man wird in ihren Trampelpfad gestampft, auf dem schon etliche Katzenkadaver verrotten. So hart und fest, dass man jemanden damit erschlagen könnte. »Und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn«, beten sie in würdevoller Monotonie und ich stelle mir Jesus als mit Gott verwachsenen Aborigine vor. Das Fleckvieh übertönt jetzt ihre Stimmen, bald werden sie die Wand zur Stube durchbrechen. Die Angst ist mir bis in die Unterhose hineingekrochen. Doch weil ich so unglaublich winzig bin, merkt niemand, dass es an meinem Hosenbein heruntertropft. »Einen Psychopathen erkennt man am Bettnässen«, haben mir die Zwillinge eingebläut. Dachschindeln zerschmettern auf dem Pflasterboden, wie Spielkarten fegt sie der Wind vom Haus. Würde eine davon die beiden am Kopf treffen, könnten sie mich nicht länger malträtieren. Und wenn der Blitz endlich in sie einschlüge, wären sie für immer entzweit. Sie teilen sich ihr Erbgut, das Hirn und die Jausenbrote. Sie haben nur eine Stimme, doch die hallt doppelt. »Erlöse uns von den Bösen!« Ich steige ins Gebet ein und betone den Akkusativ. Die Mutter holt noch ein paar Kerzen und zündet der Reihe nach ihre Dochthaare an. Sie verbrennt sich das labbrige Fleisch, es riecht nach Schwefel. Der Herrgott in der Ecke am Kreuz streckt die Arme aus, seine Knie schlottern. Meine Zähne klappern. Nicht mehr lange, dann wird er herunterfallen. Wer beschützt mich dann vor den Raubschwestern?

Ich halte den Atem an, um besser zu hören. Ein lautes, ein unerträglich langsames Flattern ist zu vernehmen. Etwas, das so langsam flattert, muss monumental sein. Es ist die schwarze Erhabenheit, die ihre Flügel ausbreitet und sich auf dem Hof niederlässt. Sie sitzt jetzt auf dem Dachgiebel, ich höre sie schmatzen. Die schwarze Erhabenheit ist immer hungrig. Sie besteht aus Wahnsinn, Abgrund und Kriegsüberresten, ein Erbe, das der nächsten Generation zusammen mit Kropfband und Goldhaube andachtsvoll überreicht wird. Sie wartet auf mich. »Denn dein ist das Reich, die Kraft und die Herrlichkeit«, sagen sie feierlich und ich wünschte nichts sehnlicher, als dass ich an Gott glaubte.

Ich vergrabe das Gesicht in meinem rotzigen Ärmel, und als ich mit meinen Kinderaugen wieder aufblicke, fotografiert der Blitz von draußen herein. Ein Bild mit Dämonen und Zyklopen. Vogelscheuchen, Menschenfressern und anderen gemeinen Teufeln. Das Beten wird zu einem Exorzismus, den sie an sich selbst exerzieren. Das flackernde Licht verformt ihre Gesichter und malt ihnen Falten und Runzeln aus vorgeschichtlicher Zeit auf die Stirnen. Niemals ist das meine Familie, ich bin allein auf meinem Heimatplaneten. Etwas hat von ihnen Besitz ergriffen. Es sieht aus, als spielten sie Ernst auf Ernst. Was macht der Ernst? Ein finsteres Gesicht. Wer lacht und spricht, bekommt eine Watschn ins Gesicht. Sie sind so sehr damit beschäftigt, sich gegenseitig nicht aus den Augen zu lassen, dass sie nicht bemerken, wie ich langsam unter den Tisch gleite, um hinauszukriechen. Wie ich die Stube mit angehaltenem Atem verlasse, um mich in den Stall zu schleichen. Mager ist die Wolfshündin geworden und grau. Ich lege mich neben sie. »Kinderlose Mutter«, sage ich zu ihr. »Mutterloses Tier«, antwortet sie. Der Vaterhund patrouilliert vor dem Tor. Ich halte mir beide Ohren zu, um die Donnergeräusche zu dämpfen, und schließe die Augen. Über Nacht wachsen mir Lefzen. Ich lerne meine Muttersprache neu, sie besteht nun aus Bellen und Knurren, während das Menschliche im Wort zugrunde geht. Die Menschen bieten keinen Schutz mehr. Die zwei Wölfe und ich, das sind drei Rudeltiere, die jetzt zusammenwachsen. Meine Tarnung wird die Knechtschaft sein. Der Mensch knechtet das Vieh, das ihm physisch überlegen ist, doch im richtigen Moment schnappt das Tier zu. »Was hast du für einen großen Kopf?«, werden sie mich fragen. Sie werden meinen breiten Schädel argwöhnisch betrachten, das Messer hinter dem Rücken verborgen. Doch meine Schnauze wird ihren heimtückischen Gestank wittern, noch bevor sie über die Türschwelle treten. Und für jedes Racheopfer wird mir ein neuer Reißzahn wachsen.

© 2020 Jung und Jung, Salzburg und Wien


Rezensionen
Zu sagen, dass Helena Adler ein Händchen für’s Schreiben hat, wäre untertrieben. Thomas Bernhard hätte geweint vor Freude und Neid. […]“. Mario Pschera, Neues Deutschland

Ein schillernder Text, der unverfroren und mit viel satirischem Witz vom Erwachsenwerden erzählt, vom gar nicht friedlichen Leben auf dem Land und von der Rebellion eines Mädchens gegen Konventionen und gesellschaftliche Zwänge.“ Irene Binal, Ö1 Ex libris

Manche Bücher, sie sind selten genug, sollten den Hinweis „Bitte fest anschnallen“ auf dem Cover tragen. Helena Adlers Debütroman Die Infantin trägt den Scheitel links zählt dazu. Denn all dem sprachlichen Furor, mit dem die Salzburger Autorin und Malerin ihre junge, rebellische Protagonistin durch die bäuerliche Scheinidylle schickt, begegnet man in dieser Intensität nur alle paar Jahre, bestenfalls. Es ist, im besten Sinn, ein umwerfendes Werk. Wut, Rebellion, Trauer, schräge Familiengeschichten, gekoppelt mit emotionsreichen Episoden über das falsche Leben in muffiger Enge […] Ein Triumph der Sprachmagie.“ Werner Krause, Kleine Zeitung




 

 

01.09 - 30.09.2023 ON-LINE