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Nie jestem botem

Aktion „Buch des Monats“:
Andrea Winkler „Die Frau auf meiner Schulter“
In diesem Jahr werden wir jeden Monat Auszüge aus der österreichischen Gegenwartsliteratur in polnischer Übersetzung publizieren.
Organisation: Österreichisches Kulturforum Warschau, Universitätsbibliothek in Warschau, Österreich-Institut Warschau und Österreich-Bibliotheken in Polen

Werbeaktion im Rahmen der Initiative der Sektion für Internationale Kulturangelegenheiten des Bundesministeriums für europäische und internationale Angelegenheiten in Zusammenarbeit mit der Österreichischen Gesellschaft für Literatur – „Jahr der österreichischen Literatur / Internationale Literaturdialoge”, https://www.literaturdialoge.at

 




Andrea Winkler
Die Frau auf meiner Schulter
Paul Zsolnay Verlag Ges.m.b.H., Wien 2018

Lebenslauf
Andrea Winkler wurde 1972 in Freistadt geboren. Nach einer pädagogischen Ausbildung war sie mehrere Jahre in der Jugendarbeit und Erwachsenenbildung tätig; daneben studierte sie Germanistik und Theaterwissenschaft in Wien, wo sie als freie Schriftstellerin lebt. Sie hatte Lehraufträge an der Kunstuniversität Linz, der Universität Innsbruck und der Universität für angewandte Kunst Wien. Andrea Winkler hat zahleriche Preise und Auszeichnungen bekommen, u.a.: Elias-Canetti-Stipendium (2020, 2009), Reinhard Priessnitz-Preis (2010), Österreichischer Förderungspreis für Literatur (2008), Förderungspreis für Literatur der Stadt Wien (2007), Adalbert-Stifter-Stipendium des Landes Oberösterreich (2006).

Veröffentlichungen (Auswahl)
Die Frau auf meiner Schulter, (Roman), Paul Zsolnay Verlag, Wien, 2018
„Ich weiß, wo ich bin“. Betrachtungen zur Literatur, (Essay), Klever Verlag, Wien, 2013
König, Hofnarr und Volk. Einbildungsroman, (Roman), Paul Zsolnay Verlag, Wien, 2013
Drei, vier Töne, nicht mehr. Elf Rufe, (Prosa), Paul Zsolnay Verlag, Wien, 2010
Hanna und ich, (Prosa), Literaturverlag Droschl, Graz/Wien, 2008
Arme Närrchen. Selbstgespräche, (Prosa), Literaturverlag Droschl, Graz/Wien, 2006

Inhalt
Andrea Winkler erzählt in diesem hochpoetischen Roman die Geschichte einer Frau, die sich von Jänner bis Juli in eine Gegend zurückzieht, die „vorübergehend aus der Welt ausgeschieden ist.“ Schnell ahnt der Leser, dass es nicht nur Josips rätselhaftes Verschwinden gewesen sein kann, das das Leben von Martha hat aus den Fugen geraten lassen. In der ländlichen Abgeschiedenheit und dem Haus des toten Friedrich, das sie bewohnt, läßt sie die Tage vergehen, „ohne sich durch besondere Werke in ihren Lauf einzumischen.“ Sie trifft auf zwei Frauen, deren Lebensent-würfe an der Realität zerbrochen sind und die doch weiterkämpfen: Olenka, eine ausgebeutete Ukrainerin, die von der großen Karriere als Sängerin träumt und Katharina, die nach schwerer Krankheit immer noch nach einem erfüllten Leben auf der Bühne sucht. Zu ihnen gesellen sich Georg, Benjamin und Thomas, ebenfalls Gestalten, „die aus der Zeit gefallen sind.“ In tagebuchartigen Aufzeichnungen, in denen Traum und Wirklichkeit ineinanderfließen, hält Martha das Geschehene fest, bis sich im Sommer die Schicksalsgemeinschaft auflöst.

Leseprobe

3. JÄNNER
Nichts, nur ein Traum:
Josip sitzt auf dem offenen Rücksitz einer alten Postkutsche, die von vier Pferden in schnellem Galopp auf einen steilen Berg gezogen wird, und beugt seinen Kopf über ein Notizbuch, in das er Köpfe zeichnet; ich rufe ihm zu, dass Sommer ist und die Sonne scheint und Federwolken über den Himmel segeln. Sogar im Traum weiß ich, dass Josip mich nicht hören kann; ich aber rufe trotzdem. Eine Dogge schießt Andrea Winkler aus dem Wald und erschreckt mich mit ihrem Gebell so sehr, dass ich rücklings zu Boden falle und direkt in die Augen des kläffenden Hundes über mir schaue. Mir fällt nichts Besseres ein, als meine Hand auf den Mund zu legen. Die Dogge bricht vollkommen hemmungslos in Lachen aus, ich stimme ein, gegen die Ahnung, dass das Lachen nicht halten wird. Ich erwache, mitten im Lachen, von meiner eigenen Stimme: Josip trägt einen Schlafmantel, mitten im Sommer, auf dem Rücksitz einer Kutsche; was soll daraus werden?

5. JÄNNER
Der Schnee fällt und fällt; Jahre gab es keinen solchen Winter mehr. Kaum bog ich an den Schlitten fahrenden Kindern vorbei auf den Feldweg ab, wollte ich mich in den Schnee legen und langsam einschlafen; ich setzte meinen Spaziergang aber fort und ging weiter wie ein Mensch, der fest entschlossen ist, sich unter allen Umständen an ein paar Regeln des Alltags zu halten und, wenn während des Spaziergangs die Sehnsucht nach Schlafen im Schnee aufkommt, den Bäumen etwas zuzuflüstern. Da ich bisher selten jemandem begegnete, mit dem ich mehr als einen Gruß wechsle, gab ich dem Verlangen nach Flüstern ungehemmt nach, ja, mehr noch, mir war, als antwortete ich damit auf das im Ort herrschende Einvernehmen darüber, dass Flüstern und Sprechen mit Bäumen, Gräsern und dem Wind keiner weiteren Erklärung bedarf und unbedingt anzuerkennen ist. Wer mag, kann sich auch auf eine der Brücken stellen und ein Gedicht rezitieren, im Vertrauen darauf, dass die Schwäne, die im Fluss selbst bei Minusgraden auf und ab treiben, schweigend mit den Köpfen nicken. Es muss im späten Sommer gewesen sein, dass ich eine Frau sah, die, einen weißen Sonnenschirm in der Hand hin und her drehend, etwa in der Mitte der Brücke stehen blieb und einem Unbekannten auf der nächsten Brücke zurief: Bananen! Schamanen! Hörst du mich? Hörst du mich? Es klang wie eine Sprechprobe für das Theaterstück, mit dem hier die Mitte des Sommers gefeiert wird. Sollte ich im nächsten noch hier sein und gemäß der alten Gepflogenheit weitergespielt werden, werde ich mich als Souffleuse bewerben. Aber wozu mir über die Zukunft Gedanken machen, solange ich beim Blick aus dem Fenster nur Weiß sehe? Wie schön das ist, wie unvergleichlich schön! Sogar der Postkasten ist vollkommen eingeschneit; kein Brief, weder gestern noch heute, noch in den sieben Monaten, die ich hier bin; keine Fragen danach, ob ich mich wohl befinde, wieder voller Tatendrang sei und erfüllt von der Bereitschaft, vernünftige Arbeit zu verrichten, ganz gemäß meinen zahlreichen Möglichkeiten. Ich verneige mich vor der Leere des Postkastens, in stiller Dankbarkeit. Ich verneige mich hier überhaupt so gern! Ja, sogar wenn ich die Teppiche in den Garten trage, mit Schnee bedecke und abreibe, auf dass ihre Farben in ursprünglicher Schönheit erstrahlen, überkommt mich das Bedürfnis, eine kleine Verbeugung zu machen. Es ist so seltsam, was mit einem geschieht, wenn man lange genug allein ist; die Dinge fangen an, durchsichtig zu werden, wie von dem spröden Licht durchzogen, das an manchen Wintertagen aus den Wolken dringt, so anspruchslos, dass man sich darüber wundert, in seiner Zartheit noch nicht vergangen zu sein.

7. JÄNNER
Zeit, auf den Dachboden zu steigen, um nachzusehen, ob etwas da ist, womit ich mich unterhalten könnte! Ich habe eine wahre Schatztruhe gefunden, gefüllt mit alten Dokumenten, Telegrammen mit Hochzeitswünschen und einem Stapel alter Postkarten, eine davon aus einem alten Kurort und mit einer so regelmäßigen Handschrift, dass ich Lust bekam, sie abzuschreiben:

Lieber Friedrich, 
ich denke an Dich, mehr als das fällt mir gar nicht ein, Dir zu schreiben. Dabei sah ich Dich gestern Nacht im Traum, ich sah Dich auf einem Weg, der auf einer Hochebene lag, einer Nebelwolke hinterhergehen, die Dich zu führen schien; zuerst dachte ich, Du würdest sie jeden Augenblick durchqueren, aber dann sah ich, dass sie, kaum warst Du knapp davor, in ihr zu verschwinden, vor Dir zurückwich. Es war ein überaus komischer Anblick! Du, wie mit einem Sprung in sie eintauchend, sie, wie mit einem Sprung, vor Dir fliehend. Eine geheimnisvolle Prozession, Ihr zwei! Sag, geht es Dir gut? Wenn nicht, komm hierher, es fehlt uns an nichts. Es grüßt Dich freundlich Dein Roland

Undenkbar, dass Friedrich in den Badeort gefahren ist, als ob er auf diese Weise seiner merkwürdigen Verbundenheit mit der Wolke hätte entrinnen können. Ob er bei seinen ständigen Sprüngen in sie hinein und doch nicht vorübergehend verrückt geworden ist? Was für eine Vorstellung, in der Weite der Landschaft so sehr mit dem Nebel vor Augen zu ringen, ohne ihn berühren zu können! Gewiss hat Friedrich deshalb sein Haus all jenen überlassen, »die aus der Zeit gefallen sind und dennoch in ihr bleiben«. Er wünscht uns allen, die wir hier für eine kurze oder lange Weile wohnen, gute Reise. Im Vertrag, den ich unterschrieben habe, als ich das Haus mietete, mit Sicherheit das merkwürdigste Dokument, unter das ich jemals meinen Namen setzte, steht es so. Ich sagte der Frau auf dem Gemeindeamt, dass ich noch nicht wüsste, wie lange ich bleiben werde, es hänge von vielen Dingen ab, über die es sich augenblicklich nicht lohne, nachzudenken; sicher aber sei, dass mein Geld eine Rolle spiele, nämlich wie lange es reiche. Sie sah mich etwas verdutzt an, vielleicht gebrauchte ich zu viele Worte. Dann drückte sie mir zwei Rattenköder in die Hand, einen für den Schuppen, einen für den Keller; eine Vorschrift der Gemeinde, gegen die selbst der tote Friedrich keinen Einwand machen kann. Seit ich hier bin, habe ich noch nie eine Maus gehört und auch im Keller keinerlei Spuren gefunden, die darauf hinweisen, dass sich hier welche tummeln. Manchmal höre ich in der Nacht etwas rascheln oder die Holztreppe knarren, aber ich kümmere mich nicht mehr darum als um die Träume, in deren Nachklang ich erwache und die ich, je nach Verlangen, notiere. Die ersten Wochen hier schlief ich und schlief, und wenn ich morgens erwachte und in den Garten ging, war mein Gehen mehr ein Taumeln. Ich legte mich in die Hängematte unter dem Kirschbaum und spähte in den Himmel, der schweigsam durch die Äste brach und, wie mir schien, nichts weiter von mir wollte. Die Geschichte von einem Mann fiel mir ein, der sich, weitab von dem Ort, an dem er lebte, in ein Haus zurückzog und tage-, ja wochenlang nichts anderes tat, als von seiner Terrasse aus einen Punkt in der Ferne zu betrachten. Er wusste nicht, was es war, manchmal ein Leuchten, dann ein finsteres Wehen, aber er fühlte, dass es ihn anzog und er eines Tages, wenn er von der Krankheit genesen wäre, die ihn jetzt in den Liegestuhl zwang, dorthin aufbrechen würde. Am Ende, nachdem er sich einen Weg durch Wälder und durchs Gestrüpp gebahnt hatte, stieß er auf ein Haus, dessen Dach kaputt war und in dem ein anderer saß, der ihm erzählte, er lebe hier mit den Schatten, die die vorüberziehenden Wolken ins Zimmer warfen; allerdings wäre es wichtig, dass jemand das Dach reparieren helfe. Eine wunderbare

Aussicht!

9. JÄNNER
Die Nachbarin, eine sehr ernste Person, die sonntags auf einem Fahrrad den Koffer ihres Sohnes zum Zug befördert, während er im Abstand von fünf Metern hinter ihr hergeht, hat Friedrich noch gekannt; er sei, erzählte sie mir, auf dem örtlichen Friedhof begraben. Der Friedhof liegt neben der Ruine, wo im Sommer Theater gespielt wird und Brot und Wein verkauft werden; der Weg dahin führt an einem Bahnhof vorbei, der keinen Schalterbeamten mehr beschäftigt, dafür aber über dem Tor ein Schild baumeln lässt, auf dem in großen, alten Lettern BAHNHOF zu lesen ist. Alle Züge, die hier im Bedarfsfall halten, bestehen aus einem einzigen Waggon, ausgestattet mit einem Automaten, bei dem ich jederzeit eine Fahrkarte lösen kann, und Fenstern, die sich öffnen lassen, falls ich meinen Kopf hinausstrecken mag, wie in vergangenen Tagen. Wann immer ich will, kann ich von hier fortfahren, irgendwohin! Vorläufig aber trage ich einen von Friedrichs Gehstöcken zu seinem Grab und flüstere einen Gruß dazu. Wird sich nicht einer, der sein Haus niemandem aus dem engen Kreis seiner Blutsverwandten überlässt, sondern Menschen wie mir, die unter dem Kirschbaum dem Himmel für seine Wunschlosigkeit danken, als empfänglich erweisen? Lieber Friedrich, ich freue mich sehr über die Dinge, die aus Ihrer Zeit hier noch da sind, verwahrt in einer alten Truhe auf dem Dachboden und, wie ich nun auch entdeckt habe, in einem der Schränke im Keller. Was haben Sie für eine außerordentliche Menge an Gehstöcken und Regenschirmen besessen! Dass man auch, wenn man über all diese festen Gegenstände verfügt, so sehr aus der Zeit fallen kann. Vielleicht brauche ich sie im Frühling oder aber spätestens kommenden Herbst; sie sind ein Segen für mich, denn ich neige seit jeher dazu, Regenschirme bereits am ersten Tag, an dem ich sie mir zulege, irgendwo zu vergessen. Eine der Postkarten, die Sie von Roland erhalten haben, habe ich abgeschrieben, auf dass die Wolke, der Sie in Rolands Traum folgen, über meinen leeren Schreibtisch wacht, an dem ich kaum sitze. Das ist beinahe so schön wie das stille Gespräch mit den Gräsern, das ich hier wiederentdecke, und das Wiederholen eines Gedichts, das mir auf den Lippen liegt – lauter unnütze Handlungen, zu nichts da, als sogleich wieder vergessen zu werden.

Aus: Andrea Winkler "Die Frau auf meiner Schulter", Paul Zsolnay Verlag Ges.m.b.H., Wien 2018

Rezensionen
»Ein wenig an den Stil Robert Walsers erinnernd, beschreibt die Autorin Spaziergänge im außen und innen, jongliert mit Motiven wie Tod und Seele, attackiert das Räderwerk des Betriebs von einer Position aus, wo ganz andere Maßstäbe gelten. Menschliche Maßstäbe.« (Brigitte Neumann, SWR2 Lesenswert)

»Leicht und sinnlich ist dieser Text. Er verwebt auf kunstvolle, aber nie komplizierte Weise viele Geschichte miteinander.« (Cornelius Hell, Ö1 ex libris)

»Ein luftig-leichter, oft surreal-komischer Text, der die Höhen und Tiefen des Lebens auslotet – gehen muss jeder seinen eigenen Weg. Aber Literatur, so wie sie Winkler schreibt, ist ein existenzieller Begleiter, den man gern bei sich hat.« (Andreas Puff-Trojan, DER STANDARD)

Die Materialien stammen aus der Publikation: https://www.bmeia.gv.at/fileadmin/user_upload/Zentrale/Kultur/Publikationen/schreibART_III_2020__BMEIA_Programm_web.pdf

 

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