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Nie jestem botem

Aktion „Buch des Monats“:
Maja Haderlap „Nachtfrauen“

In diesem Jahr publizieren wir alle zwei Monate Auszüge aus der österreichischen Gegenwartsliteratur, ausgewählt und übersetzt von Małgorzata Gralińska
Redaktion: Monika Gromala
Zusammenarbeit: Universitätsbibliothek in Warschau und Österreich-Bibliotheken in Polen

Werbeaktion im Rahmen der Initiative der Sektion für Internationale Kulturangelegenheiten des Bundesministeriums für europäische und internationale Angelegenheiten in Zusammenarbeit mit der Österreichischen Gesellschaft für Literatur – „Internationale Literaturdialoge”, https://www.literaturdialoge.at




Maja Haderlap
„Nachtfrauen“

Maja Haderlap wurde in Bad Eisenkappel/ Železna Kapla (Kärnten) geboren. Die Autorin wuchs als Angehörige der slowenischen Minderheit auf. Sie absolvierte ein Studium der Theaterwissenschaft und Germanistik an der Universität Wien. Sie arbeitete als Lehrbeauftragte an der Universität Klagenfurt und als Chefdramaturgin am Stadttheater Klagenfurt. Im Jahre 2011 gewann sie den Ingeborg-Bachmann-Preis für einen Auszug aus ihrem Debütroman Engel des Vergessens. Haderlap schreibt Lyrik, Prosa und Essays in slowenischer und deutscher Sprache und übersetzt aus dem Slowenischen ins Deutsche. Ihre eigenen Texte wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Ihr zweiter Roman Nachtfrauen stand auf der Shortlist des Österreichischen Buchpreises (2023).

Zusammenfassung
Mira steigt ins Auto und macht sich auf den Weg nach Südkärnten. Sie kehrt in ihr Heimatdorf zurück, um ihre alte Mutter auf den Auszug aus dem Haus, in dem sie vor Jahrzehnten als ungelernte Arbeiterin mit den damals noch kleinen Kindern Obdach gefunden hat, vorzubereiten. Im Dorf leben die Erinnerungen an eine als traumatisch erlebte Kindheit auf, die vom frühen Tod des Vaters und von der rigiden patriarchalen Ordnung belastet war. Die alten Konflikte kommen wieder ans Licht. Die Autorin erzählt aus dem Leben dreier Generationen von Frauen. Mira lernt die lang beschwiegenen Lebensgeschichten ihrer Ahninnen kennen: einer Tagelöhnerin, die unter dramatischen Umständen ums Leben kam, oder einer Partisanin, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr nach Kärnten zurückkehrte. Die Geschichte der Nachtfrauen ist eine der Verluste und des Schweigens, zugleich aber auch der Verzeihung und der Liebe.

Rezensionen
Poetisch kraftvoll in der Sprache, eindringlich in seinen Bildern und wichtig im Aufzeichnen eines wesentlichen Stücks Österreich darf dieser Roman als bedeutendes Werk der österreichischen Literatur gesehen werden. Absolute Leseempfehlung!“. Karoline Pilcz, Buchkultur

Haderlap erzählt ... bildreich, atmosphärisch und ungemein zärtlich, ein Ringen um Identität und sprachlichen Ausdruck, das sich über drei Frauengenerationen hinzieht.“. Karin Waldner-Petutschnig, Kleine Zeitung (AT)


Leseprobe

Mira zögerte, bevor sie den Koffer aus dem Abstellraum holte. Mit der Kaffeetasse in der Hand blickte sie fast trotzig aus dem Fenster in den Innenhof ihrer Wiener Wohnung, um sich etwas Zeit zu gönnen, in der nichts geschah, in der sie nichts entscheiden musste.

Im Schlafzimmer warf sie den Koffer auf das Bett, klappte die Hälften auseinander und begann, die vorbereitete Kleidung in die Gepäckschalen zu schlichten. Die Unterwäsche, die Strümpfe und Socken hatte sie in Stoffsäcke gelegt, damit sie nicht ungeordnet herumlagen. Im Laufe der Jahre hatte Mira eine eigene Technik des Packens entwickelt, nach der sie ihre Garderobe in durchdachter Reihenfolge in den Koffer legte. Diesmal musste sie nicht lange überlegen, sie würde nur Bequemes für zu Hause mitnehmen, keine eleganten Schuhe oder schwarzes, modisches Zeug, das Mutter nicht mochte.

Den Laptop hatte sie schon am Vorabend in den Rucksack geschoben, in dem sie auch ein paar Bücher verstaut hatte, die sie für die Erschließung durchsehen wollte. Seit sie einmal vergessen hatte, ihre Medikamente einzupacken, und daraufhin in Paris in Panik geraten war, achtete sie darauf, dass sich ihre Tabletten und Globuli immer griffbereit in den Seitenfächern des Reisegepäcks befanden.

Martin hatte schon vor ihr gefrühstückt und das Geschirr in die Spülmaschine geräumt. Er hatte sie auf die Stirn geküsst, bevor er die Wohnung verließ. Schöne Zeit, hatte er gesagt, fahr vorsichtig. Was soll das, dachte Mira, aber Martin glaubte wohl, etwas Aufmunterndes sagen zu müssen. Mira ärgerte sich darüber, dass sie sich ärgerte.


Die Garagentür hob sich rasselnd, draußen eilten Passanten vorbei, die Sonne schien, immerhin war das Wetter auf ihrer Seite. Sie war froh, nicht bei Regen unterwegs sein zu müssen, und wunderte sich über die Selbstverständlichkeit, mit der sie in der Tiefgarage des Wohnblocks in ein Auto stieg und losfuhr.

Die frühmorgendlichen Staus hatten sich aufgelöst, ohne Verzögerung erreichte sie die Stadtgrenze und fuhr auf die Südautobahn. Auf der rechten Fahrspur drängten sich die Lastwagen. Mira trat aufs Gas, um den massigen Transportern zu entkommen, was ihr nur für Minuten gelang.

Stankos Stimme am Telefon fiel ihr ein, seltsam tonlos. Er schien sich nur mit Mühe zu beherrschen. Mira war darauf gefasst gewesen, dass er ihr alle verschuldeten und nichtverschuldeten Versäumnisse vorwerfen würde, aber offenbar fand er in der Kürze keinen Weg, all das loszuwerden, was sich in ihm aufgestaut hatte. Du wirst dich um Mutter kümmern müssen, hatte er gesagt. Wenn er nur an die Kellertreppe denke, die Mutter hinabstürzen könnte. Ich weiß, sagte Mira. Wann kommst du? In zwei Tagen. Stanko legte auf.

Seit langem fiel Mira das Verreisen schwer. Die Leichtigkeit, mit der sie einmal ihre Koffer gepackt hatte, hatte sich inzwischen in etwas Umständliches, Lähmendes verwandelt. Vorbei die Zeit, in der sie kurzentschlossen ihre Siebensachen in eine Tasche gestopft hatte, um mit Martin aufs Land, auf die Rax oder in eine europäische Hauptstadt aufzubrechen. In letzter Zeit achtete Mira darauf, ihr Zeug aufgeräumt und geordnet zurückzulassen, für den Fall, dass ihr etwas zustoßen sollte. Sie wusste nicht, woher dieser Impuls kam, und ging der Sache auch nicht nach. Sie räumte, bevor sie wegfuhr, ihren Schreibtisch auf, schlichtete die Arbeitsunterlagen aufeinander und platzierte die Dokumentenmappe mit den Versicherungspolizzen gut sichtbar im Ablagenschrank.

Die regelmäßigen Besuche im heimatlichen Süden strapazierten sie mehr, als sie zugeben wollte. Obwohl sie es seit Jahrzehnten gewohnt war, dorthin zu fahren, brachten sie die Wechsel aus der städtischen in die dörfliche Welt in Bedrängnis. Nach außen hin waren ihre Ausflüge ohnehin nicht als Reisen erkennbar. Es waren gewissermaßen Expeditionen im eigenen Land, Reisen ins Innere ihrer Kindheit, die Mira mehr anstrengten als längere Aufenthalte im Ausland oder tagelange Fußmärsche mit schwerem Gepäck. Sie konnte nicht einmal behaupten, in die Fremde zu reisen, wenn sie nach Hause fuhr, das würde ihr niemand glauben.

Sie redete sich ein, mit dem Kofferpacken einen Teil ihrer städtischen Existenz ablegen zu müssen. Niemand hatte das ausdrücklich von ihr verlangt, und doch gab sie einem diffusen Gefühl nach, das es ihr nahelegte. Während sie auf der einen Bettseite Wäsche und Kleidung für zu Hause stapelte, streifte sie auf der anderen einen Teil ihrer Person ab, ihr tägliches Hasten in die Bibliothek, ihre Gespräche und Diskussionen, ihre Shoppinglaunen und Ausflüchte, die abendliche Müdigkeit, das Gefühl, es trotzdem nicht geschafft zu haben. Die befüllten Gepäckschalen gemahnten sie an den Aufbruch. Bevor Mira die Wohnungstür abschloss, sperrte sie ihre Wiener Existenz in den Kleiderschrank. Das schien ihr vernünftig.


Am Wechsel schob sie eine John-Coltrane- CD in den Player. Das gedämpfte Spiel des Saxophonisten lockerte ihre Anspannung. Sie reagierte willig auf seine Musik, wie auf einen Menschen, der ihr mit eleganter Geste das Reisegepäck aus der Hand nahm, um es für sie zu tragen.

Stankos Anruf hatte sie nicht überrascht. Insgeheim hatte sie auf den Augenblick gewartet, an dem eine Entscheidung getroffen werden musste, denn ihre Mutter Anni wurde von Monat zu Monat gebrechlicher. Zudem hatte ihr Stanko eröffnet, dass ihr Cousin Franz, der das Häuschen geerbt hatte, eigene Pläne damit hatte, man werde für Mutter eine andere Unterkunft suchen müssen. Mira wollte den Moment des Abschieds hinauszögern, solange es ging, auch, um weiterhin mit den alten, etwas abstrusen Erwartungen nach Hause zu fahren. Mit Bedürfnissen, die sich für einen Menschen, dessen Haare ergraut waren, nicht mehr ziemten. Sie bemitleidete sich im Stillen, als wäre sie immer noch eine Heranwachsende, obwohl ihr bewusst war, dass der Moment gekommen war, in dem sie für Mutter mehr Verantwortung würde übernehmen müssen.

Der Verkehr hatte sich beruhigt, Mira fuhr zügig, aber ohne Hast. Die Wälder auf dem Wechsel waren ihr in all den Jahren, in denen sie über den Pass fuhr, zu einer Wiederholungsschleife geraten, vertraut und eintönig. Manchmal zählte Mira die Brücken und Radarboxen, die sie passierte, oder sie drehte die Musik so laut auf, dass sie glaubte, in einem Strom aus Tönen zu treiben und nicht auf einer Autobahn zu fahren.

Sie hatte sich vorgenommen, zwei Wochen in Jaundorf zu bleiben. Sie wollte Mutter nicht zu einer Entscheidung drängen. Nein, drängen wollte sie Mutter nicht, aber vielleicht ihr den Gedanken an eine Veränderung nahebringen. Wie sollte man einem alten Menschen erklären, dass er in naher Zukunft, genau genommen demnächst, in Bälde, würde ausziehen müssen. Es war, als wollte man ihn ins Sterbezimmer abschieben, auf die letzte Station einer langen Reise.

Das kann ich Mutter nicht antun, dachte Mira. Sie würde noch einmal mit Franz reden, obwohl sie sich ausgerechnet über dieses Thema nie offen mit ihm oder gar mit Stanko unterhalten konnte. Immer drucksten ihr Cousin und ihr Bruder um eine Antwort herum oder fragten, wenn ihnen nichts anderes einfiel, ob sie denn nie daran gedacht hätte, zurück in den Süden zu ziehen, in die Nähe der betagten Mutter. Als wäre ihr Leben in der Stadt eine Existenz auf Abruf, gewissermaßen eine Leihgabe. In den Augen der Verwandtschaft galt Mira als Stadtmensch. Ein Stadtmensch, sagten sie, womit sie meinten, ein Mensch ohne Zugehörigkeit, der vorgab, etwas Besseres zu sein, und in Wirklichkeit kaum mehr als eine Abtrünnige war.

Nach mehr als drei Jahrzehnten in Wien fühlte sich Mira im Gewühl einer Stadt genauso wohl wie auf einem einsamen Feldweg. Dass sie vom Land kam, verriet nur ihre Angewohnheit, sich selbst als Stadtmensch zu bezeichnen. Kein echter Stadtmensch hatte das Bedürfnis, sich so oft zu verorten, wie Mira glaubte, von Jaundorf abrücken zu müssen.

Hingegen das Dorf ließ nicht von ihr ab. Es klammerte sich regelrecht an sie. Mira hatte zwar gehofft, dass mit der Zeit die Distanz zwischen ihr und dem Dorf größer würde, aber es erwies sich als hartnäckig. Es gab vor, ein Gedächtnis, mehr noch, ein Gewissen zu haben. Es wurde von Miras Mutter Anni verkörpert. Sie war sein lautstarkes Sprachrohr. Das Dorf glaubte sich unentwegt gegen die Städterin behaupten zu müssen. Es begehrte auf gegen die Wichtigtuerei der Weggegangenen. Wir hier, sprach Anni, haben auch was zu sagen, wir sind nicht so sehr auf den Kopf gefallen, wie du glaubst. Wir machen uns auch Gedanken über Gott und die Welt, obwohl wir wissen, dass unser Dorf nicht viel taugt. Was ist denn so schön daran, wegzugehen? Weggehen kann jeder. Das Schwierige ist doch, zu bleiben, auch wenn die Mehrzahl der Bewohner das Weite gesucht hat.

Seit das Dorf in die Jahre gekommen war, glaubte Mira, nachsichtiger mit ihm sein zu müssen. Sie rang sich insgeheim zu einem Kompromiss durch, indem sie sich gestattete, ein etwas geschöntes Bild über die Vorlage zu legen. Dabei gerieten ihr die Hofnamen und Himmelsrichtungen durcheinander, sie sah Gebäude und Ställe, wo in Wahrheit nie welche gestanden hatten. Manche Weiler und Städtchen in der Nachbarschaft versetzte sie in eine andere Gegend. Weit entfernte dagegen beförderte sie in den näheren Umkreis des Dorfes. Zuweilen geschah es, dass ihr Fantasiedorf über seine Ränder rutschte, sich ungehörig aufbauschte oder in sich zusammenfiel. Bevor ihr alles durcheinandergeriet, telefonierte sie mit Anni und fragte sie ausführlich nach den Dörflern aus. Sie versprach, bald wiederzukommen, demnächst, in den Ferien, sehr bald.


Textauszug aus: Maja Haderlap, Nachtfrauen. Roman. © Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2023.
Alle Rechte bei und vorbehalten durch Suhrkamp Verlag Berlin AG.





 




 

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