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Nie jestem botem

Aktion „Buch des Monats“:
Birgit Birnbacher „Ich an meiner Seite“

In diesem Jahr werden wir jeden Monat Auszüge aus der österreichischen Gegenwartsliteratur, ausgewählt und übersetzt von Małgorzata Gralińska, publizieren. Redaktion: Monika Gromala
Zusammenarbeit: Universitätsbibliothek in Warschau und Österreich-Bibliotheken in Polen

Werbeaktion im Rahmen der Initiative der Sektion für Internationale Kulturangelegenheiten des Bundesministeriums für europäische und internationale Angelegenheiten in Zusammenarbeit mit der Österreichischen Gesellschaft für Literatur – „Jahr der österreichischen Literatur / Internationale Literaturdialoge”, https://www.literaturdialoge.at




Birgit Birnbacher
Ich an meiner Seite

Lebenslauf
Birgit Birnbacher wurde 1985 in Schwarzach im Pongau geboren und ist in Goldegg und St. Veit aufgewachsen. Nach einem frühen Schulabbruch und einer unglücklichen Lehrzeit folgte mit 18 Jahren der Aufbruch nach Addis Abeba zur Freiwilligenarbeit in einem Waisenhaus, wo auch die berufliche Orientierung zur Sozialarbeit hin erfolgte. Danach arbeitete sie viele Jahre als Behindertenbetreuerin und absolvierte mehrere Berufsausbildungen. Parallel dazu absolvierte sie ab 2010 das Studium der Soziologie und später auch der Innovationsentwicklung im Social-Profit-Sektor, Abschluss 2015. Im Herbst 2016 erschien der Debütroman Wir ohne Wal, der mit dem Literaturpreis der Jürgen-Ponto-Stiftung ausgezeichnet und für mehrere Preise nominiert wurde. Birgit Birnbacher arbeitet hauptberuflich als Schriftstellerin und nebenberuflich als Soziologin in der Quartiersarbeit und lebt mit ihrer Familie in Salzburg.

Preise und Auszeichnungen (Auswahl)
2020 Longlist zum Deutschen Buchpreis für Ich an meiner Seite
2019 Ingeborg-Bachmann-Preis für den Prosatext Der Schrank
2017 Finalistin zum Alpha Literaturpreis mit Wir ohne Wal
2017 Shortlist zum Rauriser Literaturpreis mit Wir ohne Wal
2016 Literaturpreis der Jürgen-Ponto-Stiftung für Wir ohne Wal

Veröffentlichungen (Auswahl)
Wovon wir leben (Roman), Paul Zsolnay Verlag, Wien 2023
Ich an meiner Seite, (Roman), Paul Zsolnay Verlag, Wien, 2020
Wir ohne Wal, (Roman), Jung und Jung Verlag, Salzburg, 2016

Ich an meiner Seite (Inhalt)
In ihrem zweiten Roman Ich an meiner Seite erzählt Birgit Birnbacher die Geschichte des 22 Jahre alten, seelisch versehrten Arthur Galleiji. Vaterlos aufgewachsen, als Jugendlicher wider Willen nach Andalusien verpflanzt, wo Mutter und Stiefvater ein Edelhospiz führen, wird er nach einem tragischen Unfall, für den er sich verantwortlich macht und nach dem er nach Österreich zurückkehrt, straffällig. Der Internetbetrug, den er begeht, bringt ihm 26 Monate Haft ein. Nach Verbüßung der Haftstrafe landet er in einer Wohngemeinschaft für ehemalige jugendliche Straftäter und einem fragwürdigen Resozialierungsprogramm. Er muss die Erfahrung machen, dass der Einstieg in „geordnete Verhältnisse“ trotz aller Anstrengung nach der Haft geradezu unmöglich ist. Mit seinem unkonventionellen Therapeuten Börd versucht er sich neu zu erfinden, seine „ureigene Optimalversion“ mit der der Schritt in die Freiheit gelingen soll, mit der er Arbeit und Wohnung finden will. Akribisch beschreibt die soziologisch geschulte Schriftstellerin die Verhältnisse im Jugendgefängnis, die Chancen der Resozialisierung in einer Gesellschaft, in der Abstürze nicht geduldet werden und hinterfragt mitunter durchaus humorvoll Therapieansätze. Der Leser merkt: nicht nur Arthur, für den es übrigens ein „reales Vorbild“ gibt, steht an seiner Seite, auch seine empathische Autorin.


Leseprobe
Bischofshofen, 1997

Sechsstöckige Häuser in einer Vierkantanordnung, in Bischofshofen sagt man Eisenbahnersiedlung. Dazwischen Abstandsgrün, Eisenstangen ohne Wäsche, quadratischer Waschbeton, vier mal vier Meter, theoretisch für Tisch und Bänke. Aber das ist immer nur eine Möglichkeit geblieben, denn schließlich braucht jede Bank doch auch jemanden, der darauf sitzt, und wer soll dort sitzen, wo doch immer alle nur in der Arbeit sind und die, die nicht in der Arbeit sind, den anderen von ihren Balkonen aus zeigen, dass es auch in der Pension mit der Arbeit nicht vorbei ist, im Gegenteil. So sind in dieser Siedlung eben nicht nur die Allgemeingartenmöbel auf dem Waschbetonquadrat immer Theorie geblieben, sondern auch vieles andere. Rückblickend kommt es Arthur so vor, als hielten viele Bischofshofener das Leben in Bischofshofen nur aus, weil es theoretisch immer noch Möglichkeiten gäbe. Welche? Die Möglichkeit, eine anständige Tageszeitung zu abonnieren und nicht immer nur die Gratis-Krone zu lesen. Die Gratis-Krone kostet in Wirklichkeit ja auch was, aber die Bischofshofener sind Meister darin, eine theoretische Münze aus einer hohlen Faust in den Schlitz der Sammelbüchse an der wasserfesten Zeitungstasche wandern zu lassen. Das spricht Arthur nicht auf Band, aber er denkt daran, wenn es darum geht, wo er eigentlich herkommt. So leicht ist das gar nicht zu beantworten. Zuerst einmal denkt er an Waschbeton und Gras.

Die Eisenbahnersiedlungen sind in der Nachkriegszeit erbaut und seither nicht renoviert worden. Arthur kann sich an niemanden in Bischofshofen erinnern, der war wie Ruth Beckmann. Er kennt sie vom Flohmarkt, sie lädt ihn ein, sie zu Hause zu besuchen. Das Haus an der alten Bundesstraße, das sie allein bewohnt, muss einmal ein schönes Haus gewesen sein. Dicke Teppiche, dampfende Germknödel mit Butter und Mohn und ein ganzes Zimmer voller Bücher, die riechen wie sie. In Bischofshofen nennt man sie etwas Besseres. Arthur versteht nicht, wieso es ausgerechnet Marianne nicht passt, dass er die Beckmann besucht, wo doch Marianne selbst ihr ganzes Leben mit unterschiedlichen Partnern in unterschiedlichen Berufen versucht hat, es zu etwas zu bringen. Aber Arthur ist acht, und es ist 1997 in Bischofshofen, und er kennt den Unterschied nicht zwischen dem Besser der Ruth Beckmann und dem, wozu es seine Mutter bringen will. Fürs Erste merkt Arthur sich also nur, dass besser nicht gut ist.

Mit den Jahren ziehen dort immer mehr Türken ein. Beim Fußballspielen erfährt Arthur, dass sie alle nicht aus der Türkei stammen. Auf Nachfrage erklärt Georg nur, dass ein Türke ein Türke sei. Im Haus gegenüber wohnen drei »Türkenfamilien«, die aus Tirana, Skopje und Mostar stammen. »Die arbeiten bestimmt nicht bei der Bahn. Die dürften hier gar nicht wohnen«, sagt Georg zu seinem Harvard Business Manager, den er seit kurzem abonniert hat.

»Hier geht alles den Bach runter«, sagt Georg oft, wenn er aus dem Fenster schaut, und Arthur weiß nie, ob er den leeren Hof meint oder das leere Waschbetonquadrat, oder doch den abplatzenden Putz auf der gegenüberliegenden Hausmauer. »Früher sind die Leute um halb sieben aus der Arbeit gekommen, haben gegessen und dann den Fernseher eingeschaltet. Heute verstehen einen die meisten gar nicht mehr, wenn man sie grüßt. Alles ist anders geworden, und was es noch zu holen gibt, das holen die.«

Arthur weiß nicht, was es nicht mehr zu holen gibt. Aber in den Wochen und Monaten, die folgen, sitzen Georg und Marianne so lange bei geschlossener Tür in der Küche, dass Arthur manchmal spätnachts noch auf die Uhr schaut, wenn er im Türspalt Licht sieht und die beiden in einem Ton miteinander sprechen, den er gar nicht kennt. Kein Plauderton, keine Unterhaltungen sind das. Auf Nachfrage sagen sie: Sie rechnen sich was durch. Wenn es Zeit ist, wird Arthur davon erfahren. Als es so weit ist, sagen sie: »Es geht sich aus.«

Irgendwann ist die Wohnung in Bischofshofen leergeräumt: Hier verlässt eine Familie, zwei Buben, eine Frau, ein Mann, die Stadt, das Land. Die Türen, unten und oben, stehen weit offen. Der pubertierende Klaus und Georg sitzen schon im Taxi, Marianne steht in der Wohnungstür. Arthur hat nur den Astronauten und den Taucher noch stehen lassen. In dem Zimmer mit der Holzvertäfelung an der Decke, von der es immer hieß, später könne man sie einmal herausreißen. Dazu ist es also doch nie gekommen, denkt Arthur und freut sich, dass es in seinem neuen Zimmer sehr wahrscheinlich keine Holzvertäfelung geben wird.

Der Taucher und der Astronaut hinterlassen staubfreie Fußabdrücke auf dem Fensterbrett. Arthur steht in diesem leeren Zimmer in einer leeren Wohnung und Marianne draußen in der Tür. Er: ein Kind in einem ausgeräumten Leben. Sie: eine Frau, die extra noch beim Friseur war und deren Parfümwolke er jetzt gleich nachlaufen wird.

Eine Frau in neuen Kleidern, mit Schuhen, die perfekt passen. Arthur weiß noch, wie Marianne sich hinten oft zusammengefaltete Taschentücher zwischen Ferse und Schuh geschoben hat, wenn sie ihr zu groß waren. Aber seit Marianne und Georg diesen Plan mit dem Zentrum haben, ist alles anders.

Für einen Moment ist es so still, dass Arthur seiner Mutter beim Denken zuhören

kann. Sie klimpert mit den schon nackten Schlüsseln, die sie gleich unten in den Postkasten fallen lassen wird. Arthur misstraut ihrem Lächeln, und dennoch: Wann hat seine Mutter jemals so viel gelächelt. Er freut sich für sie. Und auch ein wenig für sich.

»Arthur, wirst du glücklich sein in Andalusien?«

»Du wirst glücklich sein.«

»Ich bin nur glücklich, wenn du es bist.«

Das ist doch gar nicht wahr.

A
ber Arthur nickt, genau wie jetzt in seinem Zimmer, nickt bereits niemandem mehr zu, nickt wie um sich selbst zu ermutigen, die beiden Figuren mitzunehmen. Ein Blick auf die kleinen Fußabdrücke, dann geht er aus dem Zimmer.

Marianne verlässt vor ihm die Wohnung. Kurz spürt Arthur den Impuls, auf sie zuzulaufen, die Arme auszustrecken und an ihr hochzuspringen, wie er es als kleiner Junge getan hat. Aber er ist schon zu groß dafür, und sie hat eine so weiße Bluse an. Jetzt gehen sie hintereinander die Treppe hinab, lassen einander unten umständlich den Vortritt, bis Marianne den entscheidenden Satz nach draußen macht und die beiden Stufen auf einmal nimmt. Auf dem Weg schüttelt sie sich noch derart in ihren Mantel hinein, als würde sie im Gehen davonfliegen wollen. Die Autotür dieses bürokühlen Mercedestaxis fällt so samtig zu, dass Arthur sogar ein leichtes Gefühl der Erhabenheit überkommt. Was er gerade erlebt, erleben nicht alle irgendwann: auswandern. Er denkt daran, wie Klaus beim Luftgitarrespielen vor einer imaginären Menschenmenge immer wieder einmal beide Mittelfinger emporreckt: So fühlt er sich jetzt.

Marianne sagt: »Auf Nimmerwiedersehen.«

»Na ja, so schlecht war es nicht. Aber jetzt geht es auf zu neuen Ufern!« Das ist Georg. Meistens seufzt Georg nach ein paar Sätzen und sieht Marianne an, aber Marianne schaut immer weg.

Arthur dreht sich wirklich noch einmal um, sieht den akkurat gemähten Rasen zwischen den Häusern, das Grasgrün, das Waschbetongrau. Sieht, dass eine alte Frau im fünften Stock einen bunten Teppich auf dem Balkongeländer ausklopft. Klaus weint. Was heißt: Die Hände fest vorm Gesicht, zucken die Schultern wie wild. Und er schluchzt! Der Taxifahrer ist irritiert und schaut ein wenig hab-dich-doch-nicht-so-mäßig in den Rückspiegel. Beim Hinausfahren auf die Kreuzung wirft er einen unmissverständlichen Seitenblick auf Georg in seinem gestärkten Hemdkragen am Beifahrersitz.

Arthur liest mit, was der Taxifahrer denkt, als seine Augen im Spiegel hin und her wandern. Er tut, als würde er sich auf den Verkehr konzentrieren. Marianne legt den Arm um Klaus und streichelt ihm durchs Haar. Klaus weicht ihr aus. Als sich der Blick des Taxifahrers mit dem von Arthur trifft, schaut er schnell in den Seitenspiegel, obwohl es keinen Grund dazu gibt. Jetzt aber gäbe es einen: hinausblinken, beschleunigen, es geht los!

Klaus, der sich schnäuzt, rinnen die Tränen über seine von Akne vernarbten Wangen. Sie heißt Alicia oder Alice oder Alis, zuerst wusste er es selbst nicht genau und hat den falschen Namen angeschmachtet. Worauf Arthur sich nie mehr merken konnte, welcher nun der richtige ist. Irgendwann wollte er nicht mehr fragen, weil Klaus jedes Mal ausgezuckt ist, wenn Arthur den falschen Namen gesagt hat. Jetzt schluchzt Klaus, stammelt was von Onlinebeziehung und Zwangsverschleppung, dann wird es schon wieder unverständlich. Scheißkaff, versteht Arthur noch, und sehr leise, bevor er ganz verstummt, ein Ficktseuchalle.

In Ruth Beckmanns Haus an der alten Bundesstraße brennt Licht. Arthur stellt sich vor, wie sie liest oder dass sie dampfende Töpfe am Herd stehen hat. Er möchte winken, aber lässt es dann doch. Das ist sonderbar, denkt Arthur, der Taucher und Astronaut in der Hosentasche zurechtrückt, was man alles im selben Moment fühlen kann. Zum Beispiel Leichtes und Schweres. Es zieht und hält ihn zugleich. Aber er weiß, jeder Meter ist richtig. Und dass die Würfel um seinen Platz noch nicht gefallen sind.


Rezensionen
«Birgit Birnbacher hat ein feines Gespür für das Randständige, für sozial Unterprivilegierte und für Menschen, die es aus der Bahn geworfen hat. ... Ein so menschlicher wie literarisch versierter Roman.« (Christoph Schröder, Süddeutsche Zeitung Online)

«Mit ihrem Roman beweist Birgit Birnbacher, dass ihr der Bachmann-Preis zu Recht zugesprochen wurde. ... Sie schafft die Balance zwischen sozialer Agenda und Kunst. ... Die Schwere des Themas wird durch das rechte Maß an Ironie aufgefangen.« (Dominika Meindl, FALTER)

«Birgit Birnbacher beweist einen ebenso dezenten wie umhauenden Witz. ...Virtuos handhabt sie Sprache und Sprechweisen in den Dialogen.« (Senta Wagner, DER STANDARD)


Die Materialien stammen aus der Publikation:https://www.bmeia.gv.at/fileadmin/user_upload/Zentrale/Kultur/Publikationen/schreibART_III_2020__BMEIA_Programm_web.pdf

 




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