Aktion „Buch des Monats“:
Raphaela Edelbauer „Die Inkommensurablen“
In diesem Jahr publizieren wir jeden Monat Auszüge aus der österreichischen Gegenwartsliteratur, ausgewählt und übersetzt von Małgorzata Gralińska.
Redaktion: Monika Gromala
Zusammenarbeit: Universitätsbibliothek in Warschau und Österreich-Bibliotheken in Polen
Werbeaktion im Rahmen der Initiative der Sektion für Internationale Kulturangelegenheiten des Bundesministeriums für europäische und internationale Angelegenheiten in Zusammenarbeit mit der Österreichischen Gesellschaft für Literatur – „Jahr der österreichischen Literatur / Internationale Literaturdialoge”, https://www.literaturdialoge.at
Raphaela Edelbauer
Die Inkommensurablen
Lebenslauf
Raphaela Edelbauer, geboren 1990 in Wien, studierte Sprachkunst an der Universität für Angewandte Kunst und Philosophie an der Universität Wien. Seit 2009 veröffentlicht Edelbauer in Literaturmagazinen und Anthologien und tritt bei Literaturfestivals auf. 2017 erschien ihr Prosadebüt Entdecker. Eine Poetik. Für ihr Werk wurde sie mehrfach ausgezeichnet. Edelbauer lebt als freie Autorin in Wien.
Preise und Auszeichnungen (Auswahl)
2017 Stipendium des Deutschen Literaturfonds
2018 Rauriser Literaturpreis – Hauptpreis für Entdecker. Eine Poetik
2018 Publikumspreis beim Bachmann-Wettbewerb
2019 Deutscher Buchpreis – Shortlist (Das flüssige Land)
2019 Österreichischer Buchpreis – Shortlist (Das flüssige Land)
2021 Österreichischer Buchpreis für DAVE
2023 Deutscher Buchpreis – Longlist (Die Inkommensurablen)
Veröffentlichungen (Auswahl)
2017 Entdecker. Eine Poetik. Mit Zeichnungen von Simon Goritschnig. Klever Verlag, Wien 2017.
2019 Das flüssige Land. Roman. Klett-Cotta-Verlag, Stuttgart 2019.
2021 DAVE, Roman. Klett-Cotta-Verlag, Stuttgart 2021.
2022 Der Suizid des Otto Weininger aus der einzig anständigen Perspektive erzählt. SUKULTUR, Berlin/Hamburg 2022.
2023 Die Inkommensurablen, Roman, Klett-Cotta, Stuttgart 2023.
Die Inkommensurablen (Klappentext)
Wien, Zentrum der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, steht Kopf. Noch sechsunddreißig Stunden, dann läuft das deutsche Ultimatum ab. Die Stadt ist ein reißender Strom, in allen Straßen bricht sich die Kriegsbegeisterung der jungen Generation bahn. Mitten in diesen Taumel gerät Hans, ein Pferdeknecht aus Tirol, der sich auf den Weg in die Metropole gemacht hat, um die Psychoanalytikerin Helene Cheresch aufzusuchen. Dort angekommen trifft er auf Adam, einen musisch begabten Adligen, und Klara, die als eine der ersten Frauen an der Universität Wien im Fach Mathematik promovieren wird. Gemeinsam verbringen die drei jungen Menschen den letzten Abend vor der Mobilmachung – in einer Stadt, die sich ihrem Zugriff mehr und mehr zu entziehen droht.
Leseprobe
Als Kaiser Karl VI. am 22. Oktober 1713 im kerzenerleuchteten Stephansdom vor der göttlichen Gnade auf die Knie fiel, lag Wien im Sterben.
Von der außerhalb des Glacis liegenden Vorstadt Rossau aus hatte sich der Schwarze Tod ein letztes Mal gierig ins Innere der Bastion gefressen. Eine Ungarin, eine in den Elendsvierteln hausende Patientin null, hatte sie eingeschleppt. Nun glich die Stadt, die in den letzten Jahren sprunghaft zu einer Metropole gewuchert war, in der die Gewebe der Häuser miteinander verwuchsen – in der die ins Fließwasser gespülten Rinnsale aus Kot und Waschlauge alle Ritzen durchweikten –, selbst einer gewaltigen Pestbeule. Sie könnte sich jeden Moment öffnen, meinte man: All die Toten, die man in schwarzen, nummerierten Pestkutschen aus dem Äußeren Burgtor befördert hatte, würde die Erde dann wieder freigeben.
Doch tat sie es nicht.
1714 wurde die Yersinia pestis endgültig besiegt, und der Kaiser, der seinen Eid vor dem Allmächtigen nicht vergessen hatte, ließ aus Dankbarkeit die Karlskirche auf der Wieden errichten. Die Ausschreibung gewann der Architekt Johann Bernhard Fischer von Erlach, und wer die Geschichte dieses Barockgebäudes verstehen möchte, kann es selbst befragen. Ähnlich der andalusischen Alhambra, deren mit Schriftornamenten bedeckte Wände nicht nur die Ehre Gottes besingen, sondern auch von ihrem eigenen Bau erzählen, gestaltete Fischer von Erlach die Karlskirche nach rhetorischen Gesetzen. Sie ist gekleidet in Embleme – verschachtelt in rätselförmige Gleichnisse – und zielt auf synästhetische Assoziationen der in ihr Betenden ab. Wer die Karlskirche betritt, befindet sich in zu Stein gewordenem Gedächtnis. Sie ist aber – ganz als hätte ihr Grazer Architekt auch der österreichischen Seele als Ganzem ein Denkmal setzen wollen –nicht nur ein eklektizistisches Kind eines Vielvölkerstaates. Sie ist auch ein Meisterstück abgeschlossener Vereinzelung. Fischer von Erlach orientierte sich beim Bau an den Schriften des Mathematikers Gottfried Wilhelm Leibniz, und so ist die Karlskirche, ganz wie Wien selbst, Monade: fensterlos und gegen Veränderung indifferent.
Das Monadische, das die mit einer Mauer umpanzerte Stadt achthundert Jahre lang bewahrt hatte, gab sie auf, als sie 1850 unter der Regentschaft Franz Josephs I. dazu genötigt wurde, dreißig ihrer Vorstädte zu umarmen. Leopoldstadt, Landstraße, Wieden, Margarethen, Mariahilf, Neubau und Josefstadt waren die Namen der sieben neuen Bezirke.
Nur drei Jahre später versuchte der Schneidergehilfe János Libényi, den erst dreiundzwanzigjährigen Monarchen Franz Joseph mit einem Küchenmesser zu erstechen. Das durch das energische Eingreifen des Wiener Fleischhauers Josef Ettenreich – gleich darauf Ritter von Ettenreich – abgewandte Unglück war der Anlass zum Bau der Votivkirche und darauf folgte schließlich der Anstoß zur kaiserlich angeordneten »Auflassung der Umwallung und Fortifikationen der inneren Stadt, so wie der Gräben um dieselbe«, will heißen: der Bau der Wiener Ringstraße. Als Kompensation für ein immer schwächer werdendes Kaiserreich musste Wien nun zur Weltstadt werden.
Der Anschlag hatte sich auf dem Kärntnertor zugetragen, einmal über die Straße von der Karlskirche, nur war dieses ehemalige Fort jetzt unter der Erde, weil man die alte Mauer demoliert und mit einem künstlichen Plafond den Wienfluss überbaut hatte. Von ihm hatte die Bevölkerung seit der Römerzeit getrunken – nun war er nur mehr ein Rinnsal. Als 1897 die vormalige Kaiserin-Elisabeth-Brücke eingemauert und somit vernichtet worden war, um den Weg zur Oper als Straße zu gestalten, wusste noch keiner, dass kaum neun Monate später auch ihre nervöse Namenspatronin im Sterben liegen würde. An selbiger Stelle nun: ein vierspuriger Boulevard.
Etwas eingeschüchtert von der Breite der Straße, von der er nicht wusste, wie er sie im Gewühl der Gespanne und Trams überqueren sollte, ging Hans noch einmal zurück zum nahen Resselpark. Dort bestellte er sich in einer kleinen, grünüberdachten Holzbaracke ein Bier und eine Gulaschsuppe.
Kaum hatte er sich beides einverleibt, überkam ihn die Scham, zwei Kronen und zwanzig Heller für ein Mahl verbraucht zu haben; fast die Hälfte seiner Rücklagen. Doch war ihm, als wäre hier alles ausgewechselt. Als würde er andere Luft atmen, sein Körper andere Kost brauchen – nahrhaftere –, um seine Eindrücke zu ordnen. Nach der Stärkung hatte er das Gefühl, sich dem ungeheuren Brausen stellen zu können.
Links und rechts Bäume, die sich zu einer Allee vereinigten, an deren schmalen Grasflächen die Kinder einmal spielten, einmal sich aufs Trottoir setzten, um auf die ihnen lästig langsamen Eltern zu warten. Wie konnte man sich nicht ängstigen, niedergefahren zu werden, da die Parteien sich längs und quer zu einem vielfältigen Muster überkreuzten? Haflingerkutschen mit mannshohen Bierfässern preschten vorbei, um der sogenannten guten Gesellschaft das Vergnügen voraus in die Wirtshäuser zu befördern. Damen mit befederten Hüten promenierten am Arm von Herren im Frack und hielten spitzenbesetzte Schirme hoch. Junge Charmeure in Militäruniform liefen ein paar Mädchen nach, die sich beim Kaufen einer Brezel aus der Auslage eines groben Böhmen kokett umdrehten. Gleich verloren die Frauen ihre Aufmerksamkeit wieder an einen berittenen Polizisten. Fast schien es Hans, als hätten alle zwei Millionen Wiener sich zu einem Korso vereinigt – und als wäre die ganze Stadt schon immer als ein einziger Parkweg gebaut.
Ganz falsch war dieser Eindruck nicht. Seit Joseph II., der so ganz und gar entbrannt war von der Aufgabe, seine Untertanen zu bemuttern, den Befehl gab, mit befestigten Wegen die Spazierlust der Wiener zu befriedigen, hatten die Straßen um die Innenstadt keinen Sonnentag mehr ohne Flaneure gesehen. Naturgemäß traten dem die Wechselfälle der Geschichte entgegen: Kaum waren die applanierten Wege fertiggestellt, sprengten Napoleons Truppen sie 1809. Nur wenige Jahre später schlug Karl Philipp zu Schwarzenberg – dessen grünspaniges Konterfei auf dem nach ihm benannten Platz aufragte – eben jene in der Völkerschlacht von Leipzig vernichtend.
Die Jahrhunderte ratterten an der Stadt vorüber und ließen sie wuchern. Die Fleischwerdung dieser Inflatio war das Verbrennhäusl, ein kleiner Bau, der genau gegenüber dem Schwarzenbergplatz gelegen hatte. In ihm wurden Tag und Nacht die Makulaturen dieses immer verwirrenderen Kaiserreichs verbrannt – die Schecks, die überzähligen Banknoten. Als die Ringstraße errichtet wurde, wischte der Wind der Zeit dieses und viele andere Kuriositäten des alten Wien fort, um Platz für die Prachtbauten zu machen. Wie die wertlosen Papiere hatte auch das Verbrennhäusl sich konsequenterweise erübrigt, als das militärtechnisch veraltete Glacis für immer beseitigt wurde. Es war, als hätte man der Stadt die Haut abgezogen: Wie ein Körper außen von empfindsamem und doch robustem Gewebe gehalten wird – und nicht etwa nur innerlich von Knochen –, so hatte der 400 Meter breite Grasstreifen um die Innere Stadt seit dem 13. Jahrhundert Wien gegen alle Witterungen gefeit gemacht. An den Bastionen, die an das Glacis angrenzten, wurden zwei Türkenbelagerungen zerschlagen; und wenn gerade Frieden herrschte – was laut dem berühmten Sprichwort der rigiden Verheiratungspolitik der Habsburger geschuldet war – musste eben die Bevölkerung gegen ihren militärischen Graben kämpfen.
In Winter und Sturm arbeiteten sich die Marktfrauen aus der Josefstadt und aus Mariahilf einen halben Kilometer durchs verschlammte Schützenfeld. Rüben und Kartoffeln hatten sie sich in großen Bastkörben auf den Rücken geschnallt. Wenn man abends vom Neuen Markt unweit des Stephansdom wieder heimmusste, ohne viel von seiner Last verkauft zu haben, dann kam es nicht selten vor, dass am nächsten Tag jemand über einen leblos vereisten Körper stieg, der im Schneetreiben liegen geblieben war.
Dort, wo einst die Erfrorenen gelegen hatten, war nun der Stadtpark – der letzte Rest eben jenes Glacis, von dem die Wiener sagten, dass nachts die Gestalten der Unterwelt dort ihr Unwesen trieben. Das hatte sich erhalten. Wenn am Milch- und Heu- und Getreidemarkt gegen Sonnenuntergang die Buden verschlossen wurden, wenn die vielen fahrenden Händler, die Kurzware feilboten, in die Burg zurückkehrten, dann fanden sich die Burschen aus der Vorstadt ein. Sie zwängten sich in die geschützten Winkel dieses städtischen Vorhofs – und wenn sich ein Bürger nach draußen verirrte, war es ihr Schaden nicht. Das Glacis wurde zu einem lange getragenen Kleidungsstück, unter das erregte Hände von außen sich immer heftiger zu drängen begannen.
Eine gewisse Logik regulierte diese Entwicklung. Wo Geld war, dort wurde ab 1857 auch gebaut – und so strandete in den letzten Resten der alten Festungsanlage, den Parks und Gärten der Stadt – dort also, wo untertags die Beamten und Attachés flanierten – das menschliche Treibgut: Bettgeher und Strotter, die in der Dämmerung in den Kanal stiegen, Huren und Taschendiebe, die, von der Oberfläche der makellosen Repräsentationswege verdrängt, immer mehr in den Untergrund wanderten. Das alte Glacis war verschwunden, und an seiner Stelle nun beispielsweise: das Schottentor.
Links neben den vielfach gekreuzten Tram- und Fiakerspuren erhob sich prächtig das Gebäude, das Hans, so viel er an diesem Tage schon bestaunt hatte, vollends in die Knie zwang. Es war das neue Gewand, das die 1365 gegründete Alma Mater Rudolphina Vindobonensis sich vor fünfzig Jahren übergezogen hatte, als ihr mittelalterliches Ornat in der Postgasse zu eng geworden war. Menschenströme vor den offenen Toren. Rufe, freie Lüfte – die Universität.
© 2023 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung
Rezensionen
„Edelbauers Roman Die Inkommensurablen ist mit allen literarischen Wassern gewaschen. Natürlich auch mit denen der großen Weltliteratur. […] Edelbauer, Jahrgang 1990, benutzt für ihren Historienroman auch keine historisierende Sprache, sondern eine „gewählte“: Sie schreibt in einem Duktus an, der zeitenthoben wirkt durch Eleganz und Wortvariationen, und so löst sie das Geschehen immer wieder aus seinem zeitgeschichtlichen Rahmen und bringt uns die Akteure als durchaus gegenwärtig nahe.“ Andreas Platthaus, FAZ
„Raphaela Edelbauers 350-Seiter ist vieles zugleich: Großstadtroman, massenpsychologische Fallstudie und Psycho-Thriller vor späthabsburgischem Hintergrund. Mitreißend, vielstimmig, und von knisternder Intelligenz.“ Günter Kaindlstorfer, Ö1 Mittagsjournal
„Die Inkommensurablen ist ein faszinierender, hervorragend geschriebener Roman nicht nur über die große Katastrophe des Weltkriegs, sondern auch über die Entstehung und Verbreitung von Ideen.“ Sophie Weigand, Buchkultur - Das internationale Buchmagazin