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Nie jestem botem

Aktion „Buch des Monats“: Carolina Schutti „einmal muss ich über weiches Grass gelaufen sein“
In diesem Jahr publizieren wir alle zwei Monate Auszüge aus der österreichischen Gegenwartsliteratur, ausgewählt und übersetzt von Ewa Mikulska-Frindo. 
Redaktion: Monika Gromala
Zusammenarbeit: Universitätsbibliothek in Warschau und Österreich-Bibliotheken in Polen

Werbeaktion im Rahmen der Initiative der Sektion für Internationale Kulturangelegenheiten des Bundesministeriums für europäische und internationale Angelegenheiten in Zusammenarbeit mit der Österreichischen Gesellschaft für Literatur – „Internationale Literaturdialoge”, https://www.literaturdialoge.at

Carolina Schutti
„einmal muss ich über weiches Grass gelaufen sein“

Carolina Schutti
wurde in Innsbruck geboren, wo sie auch lebt. Sie studierte Germanistik, Anglistik, Amerikanistik sowie klassische Gitarre und absolvierte eine Gesangsausbildung. Ihr erster Roman erschien 2010, weitere Romane, eine Novelle, ein Lyrikband, Hörspiele und Texte für intermediale Projekte folgten. Ihr Werk wurde in 18 Sprachen übersetzt und erhielt mehrere Auszeichnungen: Die Novelle „Eulen fliegen lautlos“ mit dem Alois Vogel Literaturpreis und der zweite Roman „Einmal muss ich über weiches Grass gelaufen sein“ wurde mit dem Literaturpreis der Europäischen Union ausgezeichnet. Mit einem Ausschnitt aus dem Roman „Der Himmel ist ein kleiner Kreis“ wurde sie 2020 zum Ingeborg Bachmann-Wettbewerb eingeladen.

Zusammenfassung
Ein schattiges Dorf und eine Tante, die nicht über die Vergangenheit spricht: In diese Welt wird Maja von einem Tag auf den anderen geworfen.
Mit dem frühen Tod der Mutter geht ihre Sprache verloren, sie versteht die Tante nicht, die von nun an für sie sorgt. In dem abgelegenen Haus gibt es nicht viel Abwechslung für das in sich gekehrte Mädchen. Einzig Marek, ein ehemaliger polnischer Zwangsarbeiter, vermag Maja ein Gefühl von Geborgenheit zu vermitteln. Der Klang seiner Muttersprache weckt in ihr eine Erinnerung an die eigenen vergessenen Wurzeln, an die verlorene Sprache ihrer frühester Kindheit.
Als Heranwachsende versucht sie, an der Seite ihrer engsten Freundin ihrer inneren Heimatlosigkeit zu entkommen und verlässt schließlich mit deren Bruder endgültig das Dorf, um in der Stadt ein neues Leben zu beginnen. Eines Tages beschließt sie, das Schweigen hinter sich zu lassen und sich auf die Suche nach ihrer verlorenen Herkunft zu begeben.


Leseprobe

I.

Babuschka
Fang einfach an, sagte Maja, so viele erste Sätze.

Es heißt nicht Babuschka, sondern Matrjoschka, sagte meine Großtante, die einzige Tante meines Vaters, dabei konnte sie gar kein Russisch. Sie hatte wohl recht, aber ich glaubte ihr nicht. Ich hatte meine Babuschka immer schon so genannt und sie vorsichtig geschüttelt und auseinandergenommen und wieder zusammengesetzt und die kleinste genau untersucht, ob sie sich nicht auch öffnen ließe wie die anderen, durch einen geheimen Mechanismus, denn ich hatte nicht glauben können, irgendwann bei der letzten angekommen zu sein.

Nachts war ich oft wachgelegen und hatte meine Augen im Zimmer umherschweifen lassen, und ich hatte der großen Babuschka erzählt, wie das Haus von außen aussah und der Garten, das in die Breite gezogene Dorf, der Schatten, der sich mehr als das halbe Jahr auf den Großteil der Häuser legte. Vom Tal mit seinen waldigen Hängen erzählte ich, vom Nachthimmel, der sich fest darüber spannte. Es hatte mir Angst gemacht, dass mir niemand sagen konnte, was dahinter war. Aber vielleicht musste man nur die richtige Frage stellen, um eine Antwort zu erhalten. Die Babuschka schaute mich an mit ihren großen Augen und ich machte sie auf und nahm das kleinste Püppchen heraus, legte es zart in meine Hand, wiegte es hin und her, staunte, wie erwachsen es aussah.

Meine Babuschka war verloren gegangen, so machte man mich glauben, aber das war unmöglich. Ich hatte sie niemals mit nach draußen genommen. Vielleicht hatte meine Tante beschlossen, dass ich zu groß sei für Puppen und sie eines Tages auf dem Dachboden versteckt oder weggeworfen, vielleicht hatte sie das Gemurmel, das allabendlich aus meinem Zimmer drang, für beunruhigend gehalten. Ich habe nie gefragt.

Ich erzählte Marek von der Babuschka und er strich mir das Haar hinters Ohr und küsste mich auf die Stirn. Moje kochanie, flüsterte er, und ich wusste, was das hieß, wenn ich auch kein Polnisch konnte und das Weißrussisch meiner ersten Jahre verloren gegangen war wie die Babuschka. (…)

Der Schnee kam früh und blieb lang, im Hochsommer musste man sich schon um vier eine Wolljacke holen, wenn man draußen spielen wollte. Im Garten wuchsen nur Minze und Kamille, Schnittlauch und Dill. Das Gras, wenn man barfuß darüberlief, stach einem in die Fußsohlen, doch ich konnte mir weiches Gras gar nicht vorstellen. Oder nicht mehr. Als kleines Kind nämlich muss ich über weiches Gras gelaufen sein, ein Mal zumindest, denn nach Jahren gab mir die Tante ein Foto, das mich mit meiner Mutter in einem Park zeigte. Ich hatte ein kurzes, weißes Kleidchen an mit gestickten Blumen und einer handgekettelten Borte am Kragen, meine Mutter hatte mich an der Hand gefasst, lachte in die Kamera und hielt nicht still für das Foto, der Arm war so unscharf wie ihr Gesicht. Wir standen barfuß im Gras, ich sah verunsichert aus, meine Augen weit aufgerissen, meine Lippen ein offener Spalt.

Meine Tante wollte nicht, dass ich Marek besuchte, ich solle lieber mit den anderen Mädchen spielen, meinte sie. Oft tat ich so, als hätte ich den ganzen Nachmittag lang Fangen gespielt und Gummihüpfen, ich kniete mich auf dem Nachhauseweg in die Wiese und strich mit den Handflächen über feuchte Erde. Manchmal, wenn genug Zeit war, legte ich mich ins Gras und sah mir die Wolken an, die sich rosarot färbten, und wenn das Licht es zuließ, konnte ich unzählige kleine Insekten beobachten, die den Himmel bevölkerten und die Luft unruhig machten.

Es stimmt nicht, dass ich mich in ein Insekt verwandeln wollte und davonfliegen, denn ich wäre nicht weit gekommen. Und Tier wollte ich auch keines sein, obwohl es damals dazugehörte, ein Lieblingstier zu haben und alles darüber zu wissen. Fini fragte mich nach der Schule, welches Tier ich denn gern wäre, und fügte in einem Atemzug hinzu, dass ich nicht antworten solle, sie wisse es, sicher ein Vogel – oder ein Engel, um zu meiner Mutter fliegen zu können. Ich wollte nicht zu meiner Mutter fliegen, denn unter der Erde war es eng und kalt, das hatte mir meine Tante gesagt und das glaubte ich ihr. (…)

Als ich groß genug war, um allein mit dem Bus in den Nachbarort zu fahren, schickte mich meine Tante einmal in der Woche zum Einkaufen. Sie gab mir zwei Stofftaschen mit und nach Wochen noch musste ich ihr, bevor ich das Haus verließ, die Haltestellen und die Abfahrtzeiten hersagen. Ich vergaß nie etwas und durfte mir ab und zu eine Kleinigkeit aussuchen. Mit der Zeit kannte ich alle Geschäfte und wurde immer schneller mit den Besorgungen fertig, sodass ich noch durch die Straßen streifen und mir die Auslagen anschauen konnte. Damals begann ich, öfter an meine Mutter zu denken. Ich stellte mich so vor die Schaufenster, dass mein Spiegelgesicht ungefähr auf die ausgestellten Kleider passte. Bei einigen schaffte ich es, in den anderen hingen die Kleider zu hoch. Ich malte mir aus, wie es wäre, wenn sich das Gesicht meiner Mutter neben dem meinen spiegeln, wie ich an ihrer Seite in die Auslage hineinlachen würde und wie wir uns an den Händen hielten dabei.

Manchmal fragte ich mich, wie es wäre, einen jungen Mann an der Hand zu halten, mit ihm zu gehen, wie Fini es nannte. Ich versuchte, mich gerade zu halten, während ich die Straße auf und ab lief, den Bauch einzuziehen, denn das sei ganz wichtig, hatte Fini gesagt, mit den Hüften zu wackeln, sodass es aussah, als hätte ich hohe Schuhe an. Ich stellte mir vor, wie es wäre, wenn mich ein junger Mann auf die Sonnenseite holen würde, er würde meine Mutter fragen, ob es gestattet sei, ihre einzige geliebte Tochter mitzunehmen, ja, mitnehmen würde er sagen, meine Mutter würde lächeln und nicken, mich an der Schulter fassen und zu dem jungen Mann hinschieben, ihre Hände vor dem Bauch falten, warten, bis er mir einen Kuss gegeben und mich in die Arme genommen hätte, und dann würde sie winken, bis wir hinter einer Biegung des Weges verschwunden wären.

Fini nahm mich manchmal an der Hand, wenn wir gemeinsam durch den Wald streiften. Wurde es auf dem Nachhauseweg dunkel, packte sie mich so fest, dass die Abdrücke ihrer Finger noch lange sichtbar waren. Ich sagte ihr nicht, dass sie mir wehtat. An langen Sommernachmittagen, wenn wir von den anderen genug hatten und ich nicht bei Marek war, setzten wir uns an den Bach, hielten die Füße ins Wasser, bis sie rot waren, legten uns dann auf die flachen, sonnenwarmen Felsen und krempelten die Blusen hoch, um unsere Bäuche zu bräunen. Fini erzählte mir Geschichten, keine Märchen, sie erzählte, was sie über die anderen Mädchen wusste und über deren Familien und von ihrem älteren Bruder und dessen Freundinnen und Freunden und ausgiebig davon, was sie durchs Schlüsselloch beobachtet hatte. Sie erklärte mir, wie das sein würde in ein paar Jahren, wenn aus uns junge Frauen würden und sich die Männer für unsere gebräunten Beine und Bäuche interessierten. Ich hörte ihr gerne zu, ihre Sätze flossen dahin wie der Bach, ein beruhigendes Plätschern beinah, und obgleich keine Baba Jagas und verzauberten Königstöchter vorkamen, lauschte ich ihren Erzählungen gespannt. Ihre Familie wurde einen Nachmittag lang zu der meinen, Finis Geschichten nahm ich mit nach Hause und mit ihnen das Gefühl, etwas erlebt zu haben und dem Schatten entkommen zu sein. Eines Abends schrieb ich einen Satz, einen halben Satz auf, der mir unterwegs eingefallen war: Könnte man sich all die Geschichten wie einen Schutzschild vor den Leib halten, sich fremde Sätze umhängen wie einen Tarnmantel. Ich las den Satz Fini vor, als wir uns das nächste Mal sahen, doch sie blickte mich von oben herab an und begann zu lachen. Ich knüllte den Zettel zusammen, steckte ihn ein, warf ihn auf dem Nachhauseweg in den Bach und wusste, dass er bald zu kleinen Fetzen würde, um sich dann ganz aufzulösen im kalten Wasser. Nie wieder ist mir so ein Satz eingefallen und nie wieder würde ich so einen Satz aufschreiben. Aber diesen einen habe ich mir gemerkt.

Man muss immer wieder von vorn anfangen, sagte meine Tante, wenn ich meinen Mut zusammennahm und sie nach früher fragte, obwohl ich ahnte, dass sie wieder nicht antworten und mir das Gefühl geben würde, sie mit dieser Frage in Verlegenheit gebracht zu haben. Die Vergangenheit, die ich mit meiner Mutter erlebt hatte, und die Vergangenheit mit meiner Tante haben sich gegeneinander verschoben, ich habe keine Erinnerung an die Schnittkante, keine Erinnerung daran, wie ich aus der Stadt ins Dorf gekommen war.

Ich weiß noch, dass ich die Tante nicht verstand, dass sie in der mir unvertrauten Sprache auf mich einredete, und dass ich zu dem fremden Mann, der mich abgeholt hatte, Papa sagen sollte. Ich sah ihn zuerst nur an den Wochenenden und dann immer seltener, weil er den Rat meiner Tante beherzigte und ganz von vorn anfing. Ich durfte bei der Tante bleiben, sie war froh um Gesellschaft in dem zu großen Haus.

Deiner Mutter war es nicht gut genug bei uns, sagte die Tante, und dass ich gerade ein paar 17 Wochen alt gewesen sei, als sie das Dorf und meinen Vater hinter sich gelassen habe, doch scheiden lassen wollte sie sich nicht, den Grund wisse sie bis heute nicht.

Und jetzt bist du hier, sei zufrieden. Ich wusste, ich musste zufrieden sein.

Als Marek starb, lebte ich nicht mehr im Dorf. Das Foto auf der Todesanzeige zeigt ihn als Fünfzigjährigen, ich weiß es so genau, weil das sein schönster Geburtstag gewesen war, weil das Foto auf einem schmalen Regal neben der Haustür stand, sein schönster Geburtstag, so hatte er jedenfalls gesagt. Fifty-fifty, hatte jemand mit weißem Lackstift an den unteren Rand geschrieben. Für hundert Jahre hat es nicht gereicht, sein Leben, aber wer kann schon sagen, wie viel Leben man mitbekommt. Meine Tante starb vor ihm, sie wurde dreiundachtzig Jahre, um das Grab muss sich niemand kümmern. Sie hatte eine Steinplatte bestellt und Jahre vor ihrem Tod selbst bezahlt, wer möchte, kann eine Kerze daraufstellen oder einen Blumenstrauß hinlegen, den die Sonne trocknet und den der Wind von der Grabplatte weht. Sie wusste, ich würde nicht wiederkommen.

Ich kam nicht wieder, ich konnte nicht, ich habe eine Matrjoschka bekommen, sie sieht meiner 18 alten, meiner versteckten, meiner weggeworfenen Matrjoschka sehr ähnlich. Ich habe sie auseinandergenommen und alle Puppen nebeneinander aufgestellt. Auf die Bäuche sind Szenen aus Märchen gemalt, aber sie machen mich traurig, jetzt, wenn ich mich an sie erinnere. Mit meiner Mutter habe ich meine Sprache verloren, die Einschlafsätze, die Trostsätze, dieses Wogen und Wiegen der Worte, unsere Sprachinsel, auf der nur wir beide Platz hatten, auf der wir durch die Stadt trieben, zum Spielplatz, zum Bäcker. Kübel, Schaufeln und Semmeln, ich kann mich nicht erinnern, mit welchen deutschen Wörtern ich zu meiner Tante kam. Und jetzt: Trostsätze aus dem Wörterbuch, Trostsätze vom Band gesprochen, doch das Wiegen will sich nicht einstellen, die Sätze bleiben vergessen.

Moi bednyj anjol, muss meine Mutter gesagt haben, moj bednyj anjol.

Ich drehe die Puppen um und lasse sie aus dem Fenster schauen, ihre Rücken sehen alle gleich aus. Hellblaue Blumen auf rotem Grund. Wo sind meine ersten Sätze geblieben, frage ich mich, frage ich mich jetzt erst, wenige Jahre lang aufgeblüht zu einer ganzen Sprache und auf der Schattenseite wieder verkümmert, nicht einmal in Erinnerung geblieben, nicht in meiner jedenfalls.


Textauszug aus:
Carolina Schutti, einmal muss ich über weiches Gras gelaufen sein. Roman. © Otto Müller Verlag, Salzburg, Wien, 2012. Alle Rechte bei und vorbehalten durch Otto Müller Verlag Salzburg Wien.


Rezensionen
»Die Autorin erzählt so eine wunderbare Geschichte und reflektiert gleichzeitig dieses Erzählen mit, ohne dabei das Vertrauen in die Kraft des Ausdrucks und in die Stärke der Imagination zu hinterfragen oder zu verlieren.« Anna Rottensteiner, Die Furche

»Die Identitätsfindung ist ein Thema, das in der Literatur ziemlich gefährlich ist, weil es das Pathos anzieht und oft im Klischee versandet. Nicht bei Carolina Schutti. Das Buch wirkt seltsam schlicht und darin eigenwillig und konzis. Klare Sätze, nichts Aufgeladenes, Verrätseltes. Stattdessen eine sehr durchgestaltete, extrem verknappte Prosa, in der jedes Wort seinen Platz hat. Gerade die vermeintliche Strenge öffnet die Räume zur Poesie.« https://oe1.orf.at/artikel/312391/einmal-muss-ich-ueber-weiches-Gras-gelaufen-sein





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