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Nie jestem botem

Aktion „Buch des Monats“:
Laura Freudenthaler „Die Königin schweigt“

In diesem Jahr werden wir jeden Monat Auszüge aus der österreichischen Gegenwartsliteratur, ausgewählt und übersetzt von Małgorzata Gralińska, publizieren. Redaktion: Monika Gromala
Zusammenarbeit: Universitätsbibliothek in Warschau und Österreich-Bibliotheken in Polen

Werbeaktion im Rahmen der Initiative der Sektion für Internationale Kulturangelegenheiten des Bundesministeriums für europäische und internationale Angelegenheiten in Zusammenarbeit mit der Österreichischen Gesellschaft für Literatur – „Jahr der österreichischen Literatur / Internationale Literaturdialoge”, https://www.literaturdialoge.at






Laura Freudenthaler

Die Königin schweigt

Lebenslauf
Laura Freudenthaler, geboren 1984 in Salzburg, studierte Germanistik, Philosophie und Gender Studies. 2014 veröffentlichte sie mit Der Schädel von Madeleine ihren Debüterzählband. Sie veröffentlichte zwei Romane – Die Königin schweigt und Geistergeschichte, die vielfach ausgezeichnet wurden. Freudenthaler schrieb auch Texte für Literaturzeitschriften. Sie lebt in Wien, arbeitete mehrere Jahre in Austria Presse Agentur (APA) und übersetzt aus dem Französichen ins Deutsche. Arson, ihr dritter Roman, erscheint Ende August 2023 bei Jung und Jung.

Preise und Auszeichnungen (Auswahl)
2021 manuskripte-Preis
2020 Laura Freudenthaler las beim Ingeborg-Bachmann-Preis und gewann mit dem Text Der heißeste Sommer den 3sat-Preis 
2019 Literaturpreis der Europäischen Union für Geistergeschichte
2018 Die Königin schweigt wurde als bestes deutschsprachiges Debüt beim Festival du premier Roman in Chambéry ausgezeichnet
2018 Förderpreis zum Bremer Literaturpreis für Die Königin schweigt

Veröffentlichungen (Auswahl)
Geistergeschichte (Roman), Droschl Verlag, Graz 2019
Die Königin schweigt (Roman), Droschl Verlag, Graz 2017
Der Schädel von Madeleine: Paargeschichten, Müry Salzmann, Salzburg/Wien/Berlin 2014

Die Königin schweigt (Klappentext)
Fanny, die »Königin«, ist eine vom Schicksal immer wieder hart getroffene Frau, die ihren Lebensabend alleine verbringt und über alles Vergangene schweigt. Auch das Tagebuch auf ihrem Nachtkästchen, ein Geschenk ihrer Enkelin, lässt Fanny unberührt liegen, statt es Seite für Seite mit den Tragödien des Erlebten zu füllen. Doch in Tagträumen und schlaflosen Nächten kann sie sich der Erinnerungen nicht erwehren, und so zieht ihr ganzes Leben in aufwühlenden Bildern an ihr vorbei: Wir begleiten Fanny durch alle Lebensphasen, beginnend mit der Kindheit auf dem elterlichen Hof in den 1930er-Jahren bis nahe an ihren Tod.


Leseprobe

ALS DIE ENKELTOCHTER KLEIN WAR, merkte sie sich einzelne Wörter, mit denen sie nach einer der Geschichten verlangen konnte, die Fanny ihr wie Märchen erzählte. Einmal wollte sie die Königingeschichte hören. Fanny dachte nach, ob sie ihr doch einmal ein Grimmsches Märchen erzählt hatte, in dem eine Königin vorgekommen war, aber schließlich, nachdem sie mehrere Geschichten angefangen hatte und von dem Kind jedesmal unterbrochen worden war, verstand Fanny, worum es sich handelte. Sie erkannte, dass das Kind recht hatte. Es war das Märchen davon, wie Fanny Königin geworden war. Und deshalb begann es mit der Ankunft des Prinzen. Fanny lachte, aber das Kind sagte bestimmt: Nicht der Prinz, der Schulmeister. Fanny musste noch einmal ansetzen. Die Geschichte hatte jedesmal mit demselben Satz zu beginnen. Nach dem Krieg kam ein neuer Lehrer ins Dorf. Und der neue Lehrer, sagte Fanny, war ein großer, breitschultriger Mann mit dunklem Haar, der schon in jungen Jahren Geheimratsecken hatte. Er war eben kein Bauer, erzählte Fanny, er war klüger als alle anderen im Dorf. Er wurde von Anfang an respektiert, und es war, als sei er schon immer im Dorf gewesen. Und, sagte Fanny, und ihre eigene Stimme klang ihr heller im Ohr, er konnte sehr schön lächeln. Er nahm sie in seinem Wagen mit zum Tanzen in eine der Nachbargemeinden. Der neue Lehrer war neben dem Pfarrer der einzige im Ort, der ein Auto besaß. In der Nachbargemeinde waren auf der Hauptstraße Tische und Bänke aufgestellt, und man konnte auf eine Zielscheibe schießen. Auf einer Wiese abseits der Straße wurde getanzt. Zum ersten Mal tanzte Fanny mit einem Mann. Sie hatte sich die Herren in der Tanzschule der Richterstochter anders vorgestellt, irgendwie glatter, aber der neue Lehrer konnte tanzen. Er habe schließlich eine Erziehung genossen, sagte der Lehrer und lächelte, als habe er einen Scherz gemacht. Fanny war froh, sagen zu können, dass sie die Wirtschaftsschule besucht habe. Anfangs konzentrierte sie sich sehr auf ihre Füße. Der Lehrer forderte sie einige Male auf, ihn beim Tanzen anzusehen, und Fanny zwang sich, den Kopf erhoben zu halten, obwohl sie das Gefühl hatte, ihre Füße nicht unter Kontrolle zu haben, wenn sie sie nicht sehen konnte. Das hatte nichts mit dem Hin und Zurück und Seitwärts aus den Tanzstunden zu tun, sie stolperte ungeschickt wie ein Bauerntrampel am Arm des neuen Lehrers. Wenn er sie plötzlich losließe, würde sie auf die Wiese stürzen, sie war hilflos. Fanny spürte die Tränen sich sammeln. Sie hatte sich eingebildet, tanzen zu können, und lächerlich hatte sie sich gemacht. Fanny achtete nicht mehr auf ihre Füße, sondern auf die Menge der Tränen. Es durften nicht so viele werden, dass die Augen sie nicht mehr behalten konnten. Sie sah die Schulter des Lehrers und seinen Hals. Die Haut über dem Hemdkragen, sehr nahe. Sie spürte seine Hand auf ihrem Rücken. Der Lehrer lächelte. Endlich begriff Fanny, was die Tochter des Richters ihnen beigebracht hatte. Das trockene Zählen und die geheimnisvollen Schrittfolgen fügten sich, mit der Musik und der Führung des Lehrers, zu einer Bewegung. Sie tanzten am Rand. Die Wiese war nicht umzäunt, aber es gab eine Grenze, dort, wo die Beleuchtung der Hauptstraße gerade noch hinreichte. Auch das Schreien und Rufen und das Gelächter drangen schwach bis hierher. Hätten Fanny und der Lehrer noch ein paar Schritte in das dunkle Feld hinaus gemacht, wäre der Lärm mit einem Mal verstummt.

ALS DER LEHRER FANNY GEBETEN HATTE, seine Frau zu werden, hatten alle im Dorf gefunden, dass sie gut zusammenpassten. Ihre Hochzeit war die erste, die in der neugebauten Steinkirche im Dorf stattfand. Sie habe sich gefühlt, erzählte Fanny, als würde sie an diesem Tag zur Königin gekrönt. Das Dach der kleinen Kapelle war eine weite Kuppel, und man hörte die Orgel über die Felder hinweg, auf denen niemand arbeitete, weil alle gekommen waren, um zu sehen, wie der Lehrer und Fanny heirateten. Man war sich einig, dass es noch nie ein so schönes Brautpaar gegeben hatte. Dein Großvater war ein fescher Mann, sagte Fanny zu ihrer Enkeltochter. Wo ist der Großvater, fragte das Kind, als es das zum ersten Mal hörte. Der ist schon lange tot, sagte Fanny, als sei ihr das im selben Moment eingefallen. Sie bemerkte erst, dass sie geschwiegen hatte, als sie aus ihren Gedanken wieder auftauchte. Vor ihr saß das Kind und betrachtete sie. Oft hatte Fanny das eigenartige Gefühl, das Kind kenne die Vergangenheit in dem Dorf, in dem es nie gewesen war. Als könne es die Bilder sehen, auch ohne dass Fanny sie erzählte. Es war ein Königskind. Dein Großvater war der Schulmeister, sagte Fanny zu ihrer Enkeltochter, der dieses Wort sehr gefiel. Mit dem Tag ihrer Hochzeit zog Fanny von dem Hof in der Senke in das Schulhaus, das oben auf dem Hügel stand. Von nun an wurde sie die Schulmeisterin genannt. Fanny richtete die Lehrerwohnung im ersten Stock ein und begann, den Gemüsegarten hinter dem Schulhaus zu bewirtschaften. Von dem Garten aus hätte sie über die Senke schauen können, wenn nicht die alte Meierei die Sicht verstellt hätte. Früher hatte in der Meierei der Verwalter der Herrschaft gelebt, jetzt wohnten darin die Wald- und Sägewerksarbeiter. Fanny war zumute, als habe sie sich unter einer schweren Wolke hervorbewegt, indem sie auf den Hügel gezogen war. Immer, wenn sie im Gemüsegarten stand und über die Ebene blickte und auf die Meierei, die vor der Senke stand, atmete Fanny unversehens tief ein und bemerkte, dass sie zuvor die Luft angehalten hatte. Der Pfarrer, der ebenfalls neu eingesetzt worden war, besuchte Fanny gern im Schulhaus. Sie sprachen über die Schulkinder, die zu wenig zu essen bekamen, und Fanny sagte, sie könnte eine Schulspeisung machen. Wozu hatte sie schließlich die Hauswirtschaftsschule besucht. Der Pfarrer sagte, Fanny sei die gebildetste Frau im Dorf. Sie wusste nicht, ob er sich über sie lustig machte, aber als er das nächste Mal kam, hatte er sich umgehört und sagte, die Kirche würde Fanny unterstützen. Er nannte sie tugendhaft und war gekränkt, als Fanny darüber lachte. Fanny berichtete ihrem Mann von diesen Plänen. Weil der Lehrer nicht wollte, dass der Pfarrer sich zu viel einbildete, sorgte er dafür, dass Fanny auch von der Partei Lebensmittelzuweisungen erhielt, um für die Schulkinder zu kochen. Der Pfarrer meinte, ein rotes Parteibuch sei hier auf dem Lande fehl am Platz. Fanny sagte, das sei ihr egal, solange die Kinder zu essen bekämen.

DIE ELTERN ERHIELTEN DIE NACHRICHT vom Tod des Bruders. Ein halbes Jahr zuvor war ein Mann aus dem Nachbarort aus der Gefangenschaft zurückgekehrt, und sie hatten gehofft, Toni würde der nächste sein. Nun wussten sie, dass er gefallen war. Gefallen, dachte Fanny, klang wie aus eigenem Verschulden. Als habe er nachgegeben, so wie Fanny während ihrer Schwächemomente glaubte, nachzugeben und nicht mehr auszuhalten. Sie hatten gehofft, er würde zurückkommen, der Vater und die Mutter hatten geglaubt und gebetet, aber da war er schon tot gewesen. Fanny versprach dem Vater, sie werde den Hof weiterführen. Vorerst werde sie den Eltern bei der Arbeit helfen, und irgendwann würden der Lehrer und sie in die Senke ziehen und den Hof übernehmen. Oft lief Fanny mehrmals am Tag den Hügel hinunter und hinauf. Sie hatte die Stunden genau eingeteilt, sodass sie, wenn das Mittagessen in der Schulküche vorbereitet war, noch zwei Stunden bei den Eltern sein konnte, bevor die Kinder zu essen bekamen. Am späten Nachmittag konnte sie dann noch einmal zu dem Hof in der Senke laufen, um im Stall zu helfen. Fanny versuchte, genauso viel auf dem Hof zu arbeiten wie vor ihrer Heirat. Sie bemühte sich, so selbstverständlich aufzutauchen, als sei sie zwischendurch gar nicht weg gewesen, als habe sie gar nicht geheiratet und sei nie vom Elternhof fortgegangen. Aber jedesmal, wenn sie auf dem Hof ankam, stand da der Vater und sagte: Ah, Fannerl. Als sei er erstaunt, sie zu sehen. Als hätte er sie nicht mehr erwartet. Für dieses Mal hatte Fanny es abgewendet, die Eltern im Stich zu lassen. Doch schon wenn sie sich zwei Stunden später unauffällig verabschiedete, als ginge sie nur kurz irgendwohin, hatte sie die beiden erneut verlassen, bis sie das nächste Mal gerade noch rechtzeitig kommen und der Vater sagen würde: Ah, Fannerl. Sie wusste, der Vater bemerkte jedesmal, dass Fanny allein und der Lehrer nicht mitgekommen war, um zu helfen. Etwas daran war aber doch richtig, denn so konnte der Vater den Eindruck haben, es hätte sich nichts geändert. Der Vater erwähnte den Lehrer nur selten, aber hin und wieder sagte er, es liege wohl in der Familie, sich für etwas Besseres zu halten, weil auch der Vater von Fannys Mann und sogar seine Schwester Lehrer waren. Die Mutter erwiderte dann, ohne den Vater anzuschauen: Du tust ihm unrecht. Immerhin habe er gekämpft, sagte der Vater und beendete damit das Gespräch. Man erzählte sich im Dorf, dass der Lehrer mit einem Halsschuss in einem der letzten Flugzeuge aus Stalingrad herausgekommen sei. Fanny hatte mit ihrem Mann nie darüber geredet, aber sie war froh, dass ihm etwas so Schlimmes zugestoßen war, denn sie spürte, dass der Vater den Lehrer dafür respektierte.

MANCHMAL, WENN SIE VOM HOF ZURÜCKLIEF, den Hügel hinauf, kam die Schwäche über Fanny. Während sie bergauf lief, spürte sie die Schwäche kommen und lief dagegen an, doch genau auf halber Strecke, an der Stelle, da der Weg den Hügel erklomm, um dann flach zum Schulhaus hinüber zu führen, hatte die Schwäche Fanny eingeholt. Sie erwischte sie in dem Moment, da Fanny den Schritt über die Kante machte. So wie Fanny früher den Kopf auf die Tischplatte hatte fallen lassen wollen, so hatte sie nun das Gefühl, zu Boden zu sinken. Sie stand an der Kante und schwankte, als werde sie im nächsten Augenblick nach hinten kippen und den Hügel hinunterrollen. So wie damals ihr Kopf nicht gefallen war, fiel nun auch Fanny nicht den Hügel hinunter, obwohl sie glaubte, nachgegeben zu haben. Auch heute fürchtete sie, sich nicht rechtzeitig wieder in den Griff zu bekommen, wenn jemand sie bemerken würde, und zugleich stellte sie sich vor, wie man sie auf dem Boden liegend finden würde. Sie hätte gern gewusst, wohin man sie bringen würde, in das Schulhaus hinüber oder hinunter zu dem Hof in der Senke. Wenn dann tatsächlich jemand kam und Fanny grüßte und beim Namen nannte, dann bewegte sie sich und grüßte zurück. Sie sagte, sie sei eben bei den Eltern gewesen und müsse zurück zur Schule, und dann sprach man über das Wetter, denn das Heu würde bald eingebracht werden. Fanny verabschiedete sich und ging in Richtung Schulhaus. Sie war die Schulmeisterin und würde das von nun an immer sein. Sie überlegte, wie viele Lebensmittelmarken sie noch hatte und ob der Pfarrer ihr helfen konnte, mehr Zucker aufzutreiben. Sie grüßte einen Waldarbeiter im Hof der alten Meierei und spürte die Sonne warm auf der Haut an ihren Armen. Fanny ging die Straße entlang, bedächtig, weil sie froh war. Einen Moment lang war ihr egal, dass jemand, der sie sah, denken konnte, sie habe nichts zu tun.

DER LEHRER WUSSTE IMMER, wo es Veranstaltungen mit Tanz gab, und oft fuhren Fanny und er eine Stunde oder mehr mit dem Wagen, um irgendwo einen Abend lang zu tanzen. Mit der Zeit hatte Fanny die Schrittfolgen und das Zählen der Richterstochter dazu vergessen, und ihre Bewegungen waren flüssiger geworden. Der Lehrer hatte ihr neue Schrittfolgen beigebracht, einfach, indem er sie führte. Er sagte, wie froh er sei, die einzige Frau in der ganzen Gegend zu haben, die tanzen konnte. Im Dorf lachte man über die Tanzerei des Schulmeisterpaares, und Fanny fuhr am liebsten dorthin, wo sie niemanden kannten. Nachdem der Lehrer ihr eine Nähmaschine gekauft hatte, schneiderte Fanny Kleider, die sie nur trug, wenn sie in die weit entfernten Ortschaften fuhren. Die Kleider hatten schwingende Röcke und keine Ärmel, nur schmale Träger über die Schultern. Wenn sie abends zum Tanzen aufbrachen, achtete Fanny darauf, dass niemand sah, wie sie das Schulhaus verließen und in den Wagen stiegen. Erst wenn sie den Weg am Wald entlanggefahren und auf die größere Straße eingebogen waren, legte sie das Tuch ab und in ihren Schoß. Während er den Wagen lenkte, blickte der Lehrer kurz zur Seite, auf Fannys Schulter, die bis auf die schmalen Träger nackt waren. Fanny tat, als bemerkte sie es nicht, aber sie wusste, dass ihm die Kleider gefielen. Manchmal schlug er ihr vor, ihn zu begleiten, wenn er in der Kleinstadt zu tun hatte. Sie gingen dann gemeinsam bis zu dem Stoffgeschäft unweit des Stadttores. Wenn Fanny vor dem Schaufenster stehen blieb, sagte der Lehrer, sie könne sich doch hier die Zeit vertreiben, während er seine Erledigungen machte. Dabei nahm er die Geldscheine, die er vorbereitet hatte, aus seiner Brusttasche. Sie verabredeten sich für später auf dem Hauptplatz, und Fanny betrat das Geschäft, in dem sie noch nie andere Kunden angetroffen hatte. Immer wählte Fanny zuerst praktisch Stoffe für Schürzen oder Hemden aus, und erst dann blieb sie wie zufällig bei den Regalen mit der Seide und dem Satin und den Spitzen stehen. Sie nahm die Enden der Stoffrollen zwischen zwei Finger, und wenn ihr ein Stoff besonders gefiel, ließ sie die Besitzerin des Stoffgeschäftes die Rolle herausnehmen und auf einen der großen Tische legen. Dann wurde ein längeres Stoffstück über den Tisch gebreitet, und Fanny und die Besitzerin unterhielten sich über die Qualität und die Verarbeitung, während sie mit den Fingern oder der ganzen Handfläche über den Stoff strichen, ihn rafften und umdrehten und dann zur Seite schoben, um eine weitere Rolle auszubreiten. Bei jedem ihrer Besuche kaufte Fanny neben einem praktischen auch einen sündigen Stoff. Die Besitzerin sagte sehnsüchtig, sie sähe gern einmal die Kleider, die Fanny aus den Stoffen nähe. Sie würde einmal vorbeikommen, sagte Fanny, und eines der Kleider vorführen. Sie dachte jedesmal, wenn sie mit dem Lehrer in die Kleinstadt fuhr, an dieses Versprechen, aber schließlich war es unmöglich, am helllichten Tag in einem solchen Kleid herumzulaufen. Deshalb führte Fanny der Besitzerin des Stoffgeschäftes auch bei ihrem nächsten Besuch kein Kleid vor, sondern kaufte einen neuen sündigen Stoff. Sie beschrieb das Kleid, das sie daraus schneidern und das sie nur selten zum Tanzen anziehen würde, und die Besitzerin meinte, Fanny würde darin bestimmt sehr schön aussehen.

AN EINEM HEISSEN TAG, an dem das Gewitter für den Abend erwartet wurde, sollte auf dem Hof in der Senke das Heu eingebracht werden. Obwohl das die anstrengendsten Tage des Jahres waren, freute Fanny sich auf den Moment, da sie das Heu rechtzeitig eingebracht haben und in der Küche zusammensitzen und Most trinken würden. Auch der Vater wäre dann hochgestimmt, weil es gelungen war. Der Lehrer war zu einer wichtigen Parteisitzung gefahren. Fanny hatte erst heute in der Früh von dieser Sitzung erfahren. Sie hatte dem Vater schon vor Tagen gesagt, dass der Lehrer beim Heuen helfen würde, und sie hatte sich darauf gefreut, dass der Vater mit ihm zufrieden sein würde. Fanny, die Eltern und die Helfer standen in der Gluthitze auf dem Feld. Es war das steile Feld am Hügelrücken, und das Heu war so trocken, dass man meinte, es würde sich jeden Augenblick entzünden. Fanny hatte dem Vater gesagt, der Lehrer habe zu einer wichtigen Sitzung müssen. Der Vater gab das Zeichen zum Anfangen. Fanny konnte hören, wie er zur Mutter sagte: Aus dem wird nie ein Bauer. Dafür sei er aber der Lehrer, wollte Fanny in einem Aufwallen von Zorn zum Vater sagen, und schämte sich zugleich für ihren Mann, der seinen Schwiegereltern nicht bei der Arbeit half. Fanny arbeitete an diesem Tag so verbissen, dass der Vater einmal sagte, sie solle sich zurücknehmen, sonst werde sie der Hitzschlag treffen. Die Sonne brannte herunter, das Heu stach, die feinen Halme drangen unter die Haut. Hinter sich, wo der Vater arbeitete, spürte Fanny die Verachtung für den Lehrer, der ihr Mann war. Sie wollte vor dieser Verachtung davonlaufen, bis ihre Wirkung nachließe, anstatt mit dem Rechen in stetigem Abstand vor ihr herzugehen. Weil ihre Brust so brannte und die Halme ihr lauter nadelfeine Kratzer beigebracht hatten, blieb Fanny einen Moment lang stehen und richtete sich auf. Die Eltern überholten sie. Fanny fuhr sich mit den Fingernägeln über die Brust, bis die unsichtbaren Kratzer Wunden waren und bluteten. Fanny stellte sich vor, wie sie in dem Wirtshaus, das sie nicht kannte und in dem die Partei ihre Sitzung abhielt, in der Stube erscheinen würde wie ein Racheengel. Sie würde den Lehrer, der ihr Mann war, packen und auf das Feld schleifen, damit er das ganze Heuen allein besorge, während sie und der Vater und die Mutter ihm dabei zusahen.


FANNY HATTE DEN VATER und die Mutter wieder überholt und arbeitete mit der Verachtung im Rücken. Sie rechte und zwischendurch wischte sie, ohne den Rechen loszulassen, mit dem Unterarm über ihr Gesicht. Der Schweiß brannte in den Augen. Sie ging quer über den Hang und rechte, wischte mit dem Unterarm über das Gesicht, um in derselben Bewegung weiterzurechen, und stellte sich vor, wie der Vater Gericht hielt. Sie sah den Vater vor sich, wie er auf einer Art Kanzel stand, ähnlich der des Pfarrers in der Kapelle. Der Vater sagte, dass Fanny, die Tochter von dem Hof in der Senke, für den Untergang des Hofes verantwortlich sei. Nachdem fünf Generationen ihr Leben und ihren Fleiß und ihrer Hände Arbeit für diesen Hof gegeben hatten, sagte der Vater von seiner Kanzel vor dem Stallgebäude herab, habe sie, Fanny, den Untergang dieses Hofes besiegelt. Fanny war am Ende einer Reihe angelangt und ging einige Schritte nach unten, um die nächste Reihe entlang zurückzugehen. Von seiner Kanzel streckte der Vater einen Arm aus und sprach den Bann über Fanny. Sie war verstoßen. Sie stach die Heugabel in einen Haufen und trug und schleifte den Haufen zur Ladefläche des Heuwagens. Fanny war für den Untergang des Hofes in der Senke verantwortlich. Sie ging zurück, stach die Heugabel in den nächsten Haufen und trug ihn zur Ladefläche. Sie war nicht mehr würdig und durfte nicht zurückkommen, nie wieder einen Fuß auf den Hof in der Senke setzen. Fanny hievte ein Bündel Heu auf die Ladefläche und ging zurück zum nächsten Haufen. Das Urteil, der Bann, die Verstoßung. Sie musste gemeinsam mit dem Lehrer, der ihr Mann war, gehen. Sie durften nie wieder zurück. Fanny war nur noch Schulmeisterin. Der Schweiß brannte in den Augen. Bis zum Abend hatten sie das Heu eingebracht, doch das Gewitter blieb aus.

© 2017 Literaturverlag Droschl, Graz


Rezensionen
»Ein stiller, konzentrierter Roman, der eine alte Frau, die sich gegen das Erinnern und das Erzählen sperrt, auf ihr von Verlusten bestimmtes Leben zurückblicken lässt. Freudenthaler zeichnet das eindringliche Porträt einer Generation, die ein scheinbar unspektakuläres Dasein führte, in dem sich aber tatsächlich die große Geschichte verbirgt.« (Förderpreis zum Bremer Literaturpreis 2018 – aus der Begründung der Jury)

»Eine schöne Melancholie, eine wunderbare Stimmung schwingt durch diese Geschichte. Laura Freudenthaler ist eine brillante Erzählerin, die mit ihrer direkten Einfachheit, mit ihrer bildhaften Sprache verzaubert. Ein Leuchten!« (Marina Büttner, literaturleuchtet)

»Jedes Kapitel, jeder Absatz – ja, jedes Wort hinterlässt eine Druckstelle. Man nimmt Fanny immer mehr als das wahr, was sie ist: Eine Frau, die sich durch ihr Schweigen ihre Würde bewahren will.« (Erkan Osmanovic, Literaturhaus Wien)

 

 

01.08 - 31.08.2023 ON-LINE