Aktion „Buch des Monats“: Tonio Schachinger „Echtzeitalter“
In diesem Jahr publizieren wir alle zwei Monate Auszüge aus der österreichischen Gegenwartsliteratur, ausgewählt und übersetzt von Ewa Mikulska-Frindo.
Redaktion: Monika Gromala
Zusammenarbeit: Universitätsbibliothek in Warschau und Österreich-Bibliotheken in Polen
Werbeaktion im Rahmen der Initiative der Sektion für Internationale Kulturangelegenheiten des Bundesministeriums für europäische und internationale Angelegenheiten in Zusammenarbeit mit der Österreichischen Gesellschaft für Literatur – „Internationale Literaturdialoge” https://www.literaturdialoge.at
Tonio Schachinger „Echtzeitalter“
Tonio Schachinger, geboren 1992 in New Delhi, studierte Germanistik an der Universität Wien und Sprachkunst an der Universität für Angewandte Kunst Wien. Nicht wie ihr, sein erster Roman, wurde mit dem Förderpreis des Bremer Literaturpreises ausgezeichnet und stand 2019 auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis, den er 2023 für seinen zweiten Roman, Echtzeitalter, erhielt. Tonio Schachinger lebt in Wien.
Zusammenfassung
Auf den ersten Blick ist es die Kulisse für ein großes Abenteuer: das traditionsreiche Internat mitten in Wien, umgeben von einem Park mit Hügeln, Sportplätzen und einer historischen Grotte. Aber Till kann weder mit dem Lehrstoff noch mit dem snobistischen Umfeld viel anfangen. Seine Leidenschaft sind Computerspiele, konkret: das Echtzeit-Strategiespiel Age of Empires 2. Ohne dass jemand aus seiner Umgebung davon wüsste, ist er mit fünfzehn eine Online-Berühmtheit, der jüngste Top-10-Spieler der Welt. Nur: Wie real ist so ein Glück?
Leseprobe
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Sieht man diesen Ort zum ersten Mal, das Schloss mit der schönbrunnergelben Fassade und der abbröckelnden graugelben Rückseite, den Park mit seinen Wiesen und Sportplätzen, seinem bewaldeten Hügel und seiner Grotte, dann ist die Mauer, die ihn umgibt und deren Höhe je nach Steigung der Argentinier- und Favoritenstraße zwischen zwei und vier Metern schwankt, wahrscheinlich das Letzte, was einem auffällt. Warum sollte man auch an die Mauer denken beim Tag der offenen Tür? Die Kinder sehen ja so viel anderes, die Tennis- und Beachvolleyballplätze, das Hallenbad, den Parkettturnsaal, die Multifunktionshalle, die Sala terrena und, wenn sie ihren Blick nach unten auf die eigenen Füße richten, den Steinboden, dessen große Platten über die Jahrhunderte von Tausenden Schlapfen glatt geschliffen wurden.
Außerdem zeigt man den Kindern die Fußballplätze, die zwei Funcourts, den Hartplatz, den Firsty-Platz und vor allem den Großen Platz, der auf allen Fotos abgebildet ist und dem Park, gemeinsam mit der ihn umgebenden Laufbahn, etwas Offizielles, etwas Highschoolhaftes verleiht, auch wenn sie nach dem Tag der offenen Tür nie wieder dort spielen werden, weil der Große Platz Gegenstand eines seit Jahren andauernden Rechtsstreits ist, dem mit dem Hinweis: Platz gesperrt, Betreten auf eigene Gefahr! Rechnung getragen wird.
Von alldem wissen die zukünftigen Marianisten noch nichts. Man erzählt ihnen vom Fremdsprachenangebot, von Schulreisen, Austauschprogrammen, sogenannten Unverbindlichen Übungen, in denen die Schüler jeder denkbaren Leidenschaft von Schach über Skifahren bis Aquaristik nachgehen können, aber man zeigt ihnen nicht die Stelle beim Konferenzzimmer, an der trotz einer zusätzlichen Schicht Farbe noch immer der Name des ehemaligen Erziehungsleiters durchscheint, begleitet von den Worten: du Kinderficker!
Den Firsty-Platz zeigt man ihnen zwar, aber ohne zu erklären, was das ist, ein Firsty, was es bald für jeden von ihnen bedeuten wird, von Älteren als Firsty behandelt zu werden, ein ganzes Jahr lang, und dass sie selbst sich gegen alle Vorsätze in diese nach Alter gegliederte Nahrungskette einfügen und schon ein Jahr später den neuen Firstys gegenüber genauso verhalten werden: Weil sie anderen nicht ersparen wollen, was ihnen nicht erspart geblieben ist.
Der Waldplatz ist nicht einmal Teil der Tour, dieser hinterste und schlechteste aller Fußballplätze, der keine Banden und keine Netze hat, in dessen Mitte ein einzelner Baum steht, der gleichzeitig aber auch der beste Platz ist, weil man sich nirgendwo sonst auf dem Schulgelände weiter von allem anderen entfernen kann und weil direkt dahinter, beim Theater Akzent, in Sichtweite der Nuntiatur, der päpstlichen Botschaft, die beste Stelle liegt, um über die Mauer zu klettern.
Wenn die Kinder wieder nach Hause kommen und ihre Eindrücke mit den Eltern besprechen, das Marianum mit anderen Schulen vergleichen, Pro-und-Kontra-Listen anfertigen, um eine wohlüberlegte Entscheidung zu treffen, erwähnt kein Einziger von ihnen die Mauer. Auch Till nicht, ein kleiner rothaariger Junge, dem sie sehr wohl aufgefallen ist, der sie angeschaut, sie wahrgenommen hat, im Gegensatz zu vielen anderen Kindern, für die sie nicht mehr war als eine altmodische Theaterkulisse, ein in grauen Pastelltönen zum Horizont führender Übergang.
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Es wäre aber falsch, Tills abweichenden Eindruck mit einer besonderen Auffassungs- oder Beobachtungsgabe zu begründen, ihm die Hellsichtigkeit zu attestieren, jetzt schon zu erkennen, was den anderen erst mit 14 oder 15 wirklich ins Auge stechen wird, nämlich dass sie, anders als andere Jugendliche aus anderen Schulen, hier eingesperrt sind und dass die Mauer dabei eine sehr pragmatische Rolle spielt. Es liegt auch nicht daran, dass Till sich schon bei der Aufzählung der Fußballplätze, erst recht aber bei ihrer Besichtigung langweilt, keinen Elfmeter schießen will, noch weniger, als er dazu gedrängt wird, Probier es doch einmal! Trau dich!, so wie immer alle zum Fußball gedrängt werden, als gäbe es nichts anderes auf der Welt, bis er sich schließlich doch fügt, weil das Warten der anderen hinter ihm einen Druck erzeugt, den er von Sprungtürmen und Wasserrutschen im Schwimmbad kennt, wo umzudrehen und gedemütigt abzusteigen irgendwann gleich unmöglich ist, wie zu springen.
Seine Beine werden beim Anlaufnehmen so lang, dass er Höhenangst bekommt, während das Tor immer weiter schrumpft und die Arme des Tormanns in die Breite wach- 8 sen, und er stolpert schließlich über seine eigenen Füße, ohne den Ball zu berühren.
Till steht auf und denkt keine Sekunde darüber nach, ob das gerade peinlich war. Es ist Samstag, und als seine Mutter ihn mit einem «So, jetzt müssen wir aber wirklich los!» aus seinem Zimmer geholt und die paar Hundert Meter zu der Schule gebracht hatte, lagen schon drei Stunden Assassin’s Creed hinter ihm, weshalb er sich noch immer in diesem angenehmen, von der realen Welt losgelösten Zustand befindet, den das Eintauchen in andere Welten erzeugt. Wenn man in einem Computerspiel zu etwas fähig ist, sei es Wände klein zu schlagen und mit dem gewonnenen Holz Treppen in den Himmel zu bauen oder als Parcoursläufer jedes erdenkliche Hindernis zu überwinden, kann es passieren, dass man in der Realität dieselben ganz konkreten Möglichkeiten sieht wie im Computerspiel.
Wie langweilig ist es im Vergleich, darüber nachzudenken, ob man wirklich Latein, Französisch und Russisch lernen, ob man in dieses sogenannte Halbinternat gehen und jeden Tag erst um 17 Uhr 30 nach Hause kommen möchte, ob man sich wohlfühlt zwischen all den Fußballern und Volleyballerinnen, zwischen Kindern, die sich schon mit zehn so kleiden, wie sie es ihr restliches Leben über tun werden: in grüne Polohemden und braune Segelschuhe, rosa Poloblusen und weiße Jeans. Wie langweilig erscheint alles im Vergleich zu Kunstwerken, an denen Hunderte Menschen über Jahre gearbeitet haben, damit sie uns so gut wie möglich unterhalten.
Vielleicht ist es normal für ein Kind, das seine Vorstellung von Internaten den Harry-Potter-Filmen und den HarryPotter-Computerspielen verdankt, einen Ort zu sehen, an den es nicht gehört, und sich vorzustellen, es könne der 9 dorthin passende Mensch werden. Vielleicht denkt Till auch einfach nicht darüber nach, weil er sich während der Besichtigung vorstellt, wie er vom Boden zur Dachrinne und von dort zum oberen Fenstersims springt, auf das höhere Nebengebäude klettert, über die Dächer zur Karlskirche läuft, um von ihrer Kuppel einen Köpfler mit angelegten Armen hinunter zu machen. Jedenfalls fühlt er sich gut, als seine Mutter und er am Abend mithilfe einer objektiven Liste errechnen, dass das Marianum für ihn die beste Option ist. Und seine Mutter freut sich, ihn betreut zu wissen, während sie Vollzeit arbeiten geht.
Namhafte Absolventen sagen nichts über die Institution aus, die sie hervorgebracht hat, und in einer kleinen Stadt wie Wien ergeben sie sich im Lauf der Zeit von selbst. Das Gymnasium Wasagasse hat Friedrich Torberg, Erich Fried und Stefan Zweig, das Akademische Gymnasium Arthur Schnitzler, Lise Meitner und Erwin Schrödinger, das Schottengymnasium Johann Nestroy, Johann Strauss und Ernst Jandl. Und so hat eben auch diese Schule gewisse Menschen, auf die sie verweisen kann, je nachdem, woher der gesellschaftliche Wind gerade weht. Auf Karl Lueger, zum Beispiel, war man früher deutlich stolzer als heute, und die Namen Hermann von Trenkwald und Fritz Hamburger fallen gar nicht erst oder verschwinden hinter den Namen derjenigen, die wegen Menschen wie ihnen emigrieren mussten.
Um andere momentan Inopportune kommt man leider nicht so leicht herum, denn wenn schon der SA-Obersturmführer-Großvater hier war, dessen Abschneiden bei den Olympischen Spielen 1936 zur allgemeinen Enttäuschung die Überlegenheit seiner Rasse eher widerlegte als bewies, 10 und der Vater, der rechtskräftig wegen Leugnung des Holocausts verurteilt wurde, und schließlich auch der Sohn, dessen Präpotenz der österreichischen Demokratie unfreiwillig einen großen Dienst erweisen wird, kann man als Schule nicht viel machen, um sich zu distanzieren.
Doch die Deutschnationalen und Rechtsradikalen sind am Marianum nicht stärker vertreten als im Rest Österreichs, wo sie quer durch alle sozialen Klassen circa 25 Prozent der Bevölkerung ausmachen, und wollte man die hier vorherrschende Geisteshaltung identifizieren, wäre es eher der Opportunismus. Ein typischer Absolvent dieser Anstalt ist jemand, der den vorhandenen Besitz seiner Familie weiter vergrößert, der als Arzt, Anwalt oder Unternehmer die Praxis, Kanzlei oder Firma seines Vaters übernimmt, dem es für seine gesamte Lebenszeit als Rebellion genügen wird, mit 17 seinen über das Hemd gelegten Pullover schräg über eine Schulter zu binden statt symmetrisch über beide.
Till wird nie so sein.
Es wäre auch gar nicht so schlimm, wenn Till hier falsch ist, denn die Schule ist groß genug, um einen durchrutschen zu lassen, einem, zwar eher aus Nachlässigkeit als aus Toleranz, den Freiraum zu gewähren, wenn schon nicht gefördert, dann zumindest in Ruhe gelassen zu werden.
Das heißt: Sie wäre es, ginge Till in die 1A oder die 1C, in die 3B oder die 5D, in jede andere Klasse als diese 1B. Denn während die Schule seit Jahren darauf hinarbeitet, ihrem Elitismus ein möglichst menschliches Antlitz zu verpassen, gibt es einen Menschen, der sich allen Anforderungen der modernen Welt, allen Kompetenzorientierungen gegenüber verhält wie ein unbeugsames gallisches Dorf. Und weil dieser Mensch Klassenvorstand, Deutsch- und Französischlehrer, Tutor und an drei von fünf Nachmittagen auch Nach- 11 mittagsbetreuer der 1B ist, müssen auch Till und seine Klassenkollegen Gallier sein: Bewohner einer Exklave von der Wirklichkeit.
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Wien zieht Sonderlinge an. Es gibt kanonisierte Sonderlinge wie Helmut Seethaler, der seit Jahrzehnten gegen die Wiener Linien prozessiert, um seine Gedichte mit Tixo an die Wände von Bushaltestellen zu kleben, den Bierkavalier, der aus irgendeinem Zwang heraus Frauen in der U-Bahn fragt, ob sie mit ihm ein Bier trinken gehen wollen, sich aber im seltenen Fall einer Zusage sofort wegdreht und die nächste Frau anspricht. Es gibt den König vom Sudan, einen älteren Mann mit schwarzem Anzug, roter Krawatte und rotem Barett, der am Schottentor residiert, zwei Doktortitel von der Universität von Alexandria hat und ein Megafon; es gibt die Oma im 6. Bezirk, die einen vergeblichen Kampf gegen Graffitis führt und mit einem Kübel brauner Farbe und einem Pinsel jeden Schriftzug übermalt, egal welche Farbe das Haus hat, von Hausbesitzern verklagt wird, denen die braunen Rechtecke noch hässlicher erscheinen als die Schmierereien, und die, zumindest in den Augen des Staates, im selben Ausmaß Vandalin ist wie die Vandalen, die sie bekämpft.
Das Besondere an Wien sind aber nicht seine originellen Außenseiter, nicht das Lercherl von Ottakring, der winzige, immer schon alt gewesene Mann im Pepitasakko, der früher auf der Kärntner Straße mit seiner Falsettstimme Vogelgesänge imitierte, oder Waluliso, nach dem inzwischen sogar eine Brücke im FKK-Bereich der Neuen Donau benannt ist, 12 und auch nicht die Obdachlosen oder die Drogensüchtigen, die Junkies, die im 7. Bezirk Gedichte verkaufen, in kindlicher Schreibschrift verfasst und kopiert, manche schön und traurig, andere traurig und furchtbar.
Das Besondere an Wien sind die Wahnsinnigen mit bürgerlicher Fassade, die weitgehend funktionieren, aber nie von hier wegziehen könnten, weil ihr menschenfeindliches Verhalten in keiner anderen Stadt so wenige Konsequenzen hätte. Menschen, die eben nicht außerhalb der Gesellschaft stehen, sondern in geschützten Bereichen mit beschränkter Haftung ihren Jobs nachgehen: in Magistraten, Privatschulen oder bei der Polizei, auch wenn sie psychisch prekäre Leben führen. Jeden Tag können sie die Beherrschung verlieren, weil sie sich daran gewöhnt haben, in einem kleinen Biotop nach eigenem Belieben die Regeln zu schreiben, die andere zu befolgen haben, und erst wenn sie einmal außerhalb ihres gewohnten Umfelds eskalieren, wenn sie, zum Beispiel, im Filmmuseum während eines Bergman-Films auf eine amerikanische Studentin einprügeln, weil sie ihrer Meinung nach zu laut gewesen ist, wenn sie in der Straßenbahn jemandem mit ihrem Schirm ins Bein stechen, jungen Schriftstellerinnen systematisch anzügliche Gedichte per Mail schicken, wenn sie zu schreien beginnen, weil jemand in einem geschlossenen Raum aus einer Plastikflasche trinkt, erst dann wird für alle offensichtlich, was jene, die einem solchen Menschen ausgeliefert sind, längst wussten, nämlich, dass es sich um einen Wahnsinnigen handelt, um jemanden, der über niemanden bestimmen sollte.
«Ein Internatsroman, ausgezeichnet mit dem Deutschen Buchpreis, der den Vergleich mit Robert Musil oder Hermann Hesse nicht scheuen muss.» Denis Scheck, ARD Druckfrisch
«Eine witzige, kühl analysierende, einfühlsame Geschichte junger Menschen im 21. Jahrhundert ... Ein herausragender Gegenwartsroman.» FAS
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